// Martin Schläpfer achtet auf sich. Er ordert grünen Tee in der Bar des Düsseldorfer Parkhotels, obwohl die Dämmerung sich schon über den Hofgarten legt. »Ich habe morgen einen anstrengenden Tag. Da trinke ich abends keinen Alkohol«, lächelt er, als bitte er um Verständnis. Der Kellner stellt Petits Fours in einem weißen Porzellanschälchen auf den Tisch. Der Choreograf betrachtet sie kurz, nimmt aber keins.
Mit der Verpflichtung Schläpfers zum neuen Ballettchef der Deutschen Oper am Rhein ist der Stadt Düsseldorf ein Coup geglückt. Der weltberühmte niederländische Tanzschöpfer Hans van Manen bezeichnete Martin Schläpfer kürzlich als den »momentan wichtigsten deutschen Choreografen«. Dem 49-jährigen Schweizer eilt ein großer Ruf voraus. Er verschaffte sich internationale Anerkennung, als er vor zehn Jahren in die Ballettprovinz Mainz ging, um ein Ensemble von Format aufzubauen und das heute europaweit beachtete »ballettmainz« schuf. Der ehemalige Startänzer in Heinz Spoerlis Basler Ballett choreografierte sich von Basel über Mainz bis an die Deutsche Oper am Rhein hoch. In Düsseldorf-Duisburg blicken nun alle voller Erwartung auf den neuen Mann an der Spitze der Kompanie. Hochmusikalisch und formenstark, steht er für den notwendigen ästhetischen Neuanfang. Denn nach 13 Jahren Youri Vàmos geht eine Ära konservativer Klassik zu Ende, die zwar ihr Publikum hatte und das Haus füllte, aber nie bundesweite, geschweige denn internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat.
Martin Schläpfer ist sich dieser Erwartungshaltung offenbar bewusst. »Ich möchte hier weltweit eine der besten Kompanien haben mit einem Profil, das nicht austauschbar ist«, bringt er selbstbewusst sein ambitioniertes künstlerisches Ziel auf den Punkt, ohne dabei überheblich zu wirken. Der Sohn eines Landwirts aus dem Appenzeller Land, der über den Eiskunstlauf zum Ballett kam, ist ein bescheidener, ernsthafter Mensch. Bei aller Selbstkritik jedoch weiß er, was er kann und noch mehr, was er will.
Er freut sich darauf, endlich mit einem größeren Corps – 48 Positionen sind es – zu arbeiten. Die Kompanie seiner Wahl hat er schon zusammengestellt: Schläpfer bringt nicht einfach nur sein eigenes Team, sondern gleich das gesamte »ballettmainz« mit. Aus Loyalität. Die Mainzer sind ein hervorragendes Ensemble aus Künstlerpersönlichkeiten. Hinzu kommen 20 Tänzer des Rheinopernballetts, die er übernimmt. Etwa zehn Neuzugänge hat Schläpfer ausgeguckt. Der neue Ballettchef will kein Corps, das die klassische Ästhetik widerspiegelt, sondern die heutige Außenwelt.
Das Kind bekommt einen neuen Namen: »Ballett am Rhein Düsseldorf-Duisburg«. »Schon der Titel soll ausdrücken, dass der Tanz kein Anhängsel der Oper mehr ist. Daran liest man Gleichberechtigung und Präsenz ab«, gibt Schläpfer sich kämpferisch.
In der ersten Spielzeit bringt er fünf gemischte Premieren heraus, durchnummeriert von »b. 01« bis »b. 05«, mit Hans van Manen, Paul Lightfood/Sol León, George Balanchine, Twyla Tharp, Kurt Jooss und Teresa Rotemberg. »Es ist ein großes Haus, das den Tanz gut ausstattet. Da müssen die wichtigen Choreografen vertreten sein«, erläutert er. Und fügt hinzu, als wär’s bedeutungslos: »Der Rest kommt von mir.« Der »Rest« – das sind acht Ballette. Zum Auftakt beginnt einer wie Schläpfer mit einer Uraufführung – eine von zweien. Für seine neue Kreation zur dritten Symphonie von Witold Lutoslawski bleiben dem Arbeitswütigen gerade mal sieben Wochen Zeit.
Klassische Handlungsballette, wie das Publikum sie von Youri Vàmos gewöhnt ist, wird es zumindest in der ersten Spielzeit nicht geben. Später vielleicht? »Ich denke schon lange an ›Schwanensee‹«, verrät Schläpfer. »Ich habe noch keinen Schlüssel. Somit lasse ich’s noch.« Dennoch, ein Handlungsballett ist ein Thema: »Es kann auch sein, dass ich mit einem Komponisten einen neuen Stoff erarbeite.«
Es wäre sein erstes Erzählballett. Schläpfers Werk basiert auf abstrakter Neoklassik im Sinne George Balanchines, die er in die Gegenwart überführt hat. Sein abstrakter, allenfalls episodenhaft gehaltener Tanz ist reduziert, konzentriert und viel zu intelligent, um sich von der Musik zu vordergründigen Effekten oder Pathos verleiten zu lassen. Ja, die Musik ist es, die seine choreografische Phantasie anregt. Das Bewegungsmaterial konterkariert geradezu die Komposition, setzt ihr ein Eigenleben entgegen.
Wie in »Marsch, Walzer, Polka«, das die Spielzeit (gemeinsam mit Schläpfers Uraufführung »3.Sinfonie« und van Manens »Frank Bridge Variations«) eröffnen wird. Darin erklärt er sich unabhängig von Vater und Sohn Strauß, um den seligen Melodienrausch mit minimalistischer Spannung zu unterlaufen.
Sein persönliches Lieblingsstück ist »Kunst der Fuge«, ein getanztes
Miniaturmosaik zu Johann Sebastian Bach. Die Duisburger Premiere folgt Anfang Dezember. »Meine Antwort auf den Nussknacker«, lächelt der sympathische Schweizer.
Gleich drei Meisterwerke vereint er in »b.05«. »Pezzi und Tänze« für fünf Paare auf flacher Sohle zu den »Tre Pezzi« für Saxofon von Giacinto Scelsi und – im Kontrast – Franz Schuberts Walzerwelt. Es sind feine, federleichte Miniaturen, geahnte Anekdoten voller Witz und Gefühl. Ein Wahnsinnssolo ist »Ramifications« zu György Ligetis gleichnamiger Komposition für Streichorchester. Als durchtanze sie ein ganzes Leben in zehn Minuten, vielleicht das eines Schmetterlings, flattert eine Tänzerin wie aufgeschreckt herum, begehrt auf, krümmt sich wie verletzt, schwebt elegant davon. Ein Erlebnis, das einen betroffen zurücklässt. Und dann »3«. In einer Kunstwelt aus einzelnen Gegenständen, die das Licht nur streift, entwickelt Schläpfer Tänze in Dreierkonstellationen, aus denen sich wie selbstverständlich immer neue Muster ergeben. Tänze, die Fragment um Fragment zu einem Ganzen einen. Meditativ bis kriegerisch ist die Grundstimmung zu einer stets live gespielten Auftragskomposition des Briten Paul Pavey für Gesang, Cello und Electronis. Es ist ein vielschichtiges Werk von elementarer Wucht, bei dem die Frauen ihre Spitzenschuhe in den Tanzboden hämmern, als wollten sie ihn durchlöchern.
»Mir geht es bei einem Ballett darum, das Herz der Musik zu punktieren«, beschrieb Schläpfer einmal seine Arbeitsweise. Sind seine durchkomponierten Arbeiten das Ergebnis choreografischen Kalküls oder geht er rein intuitiv vor? »Alleine intuitiv schon lange nicht mehr«, so Schläpfer nachdenklich und lässt sich Zeit mit der Antwort. »Ja, es ist schon auch Kalkül. Aber auch Erfahrung, die vom Sehen und Lernen kommt. Auch von der zeitgenössischen Musik. Jemand wie Lachenmann hat mich verändert. Er hat meinen Kopf gesprengt. Es ist ja alles schon da in der Musik, auch in ihrem Subtext. Dabei ist es schwerer, einen Schubert zu beantworten als einen Ligeti.«
Schläpfer ist Herr über eine stattliche CD-Sammlung, mehrere tausend Stück. Die steht jetzt in seiner Wohnung in Düsseldorf-Hamm. Nicht leicht sei es gewesen, eine Bleibe zu finden: »Ich habe acht Katzen«, erklärt er. Auf sie freut er sich, wenn er nach Hause kommt. Familie bedeutet ihm nicht viel. Die Eltern sind verstorben, zu den Brüdern, beide Ärzte, hat er kaum Kontakt. Er ist gern allein. Im Urlaub zieht er sich in sein Steinhäuschen auf einer Alm im Tessin zurück. Abgeschieden von aller Welt. »Es ist nicht einfach, ganz auf sich geworfen zu sein«, sagt er leise. Es klingt schwermütig.
Der grüne Tee ist ausgetrunken, ebenso das Mineralwasser. Ein gesunder Abend.
Die Premiere von »b.01« ist am 16. Oktober 2009 in Düsseldorf zu sehen. www.operamrhein.de