Als Beitrag zum Landesjubiläum kommt dieser repräsentative und großzügig ausgestattete Band ein Jahr zu spät. Doch ist er mehr als eine Festschrift. Als Bestandsaufnahme und Dokumentation beinhaltet er auch ein Programm, das, langfristig angelegt und auf Nachhaltigkeit bedacht, über das Jahr und über den runden Geburtstag hinausweist. Schließlich geht es, wie es gleich am Anfang heißt, um »eine permanente Transformationsaufgabe«, die Erneuerung der Städte stellt, so wird einmal Peter Zlonicky zitiert, eine »Daueraufgabe ohne Dauerlösung« dar. Das Buch »Nordrhein-Westfalen: 60 Jahre Architektur und Ingenieurkunst« formuliert schon mit der Auswahl der Projekte und erst recht in den meisten seiner diskursiven Beiträge auch Ansprüche, die in diesem Land vorausgesetzt werden können und an denen neue Bauvorhaben zu messen sind. Könnte die überfällige Publikation dafür das Bewusstsein heben und den Blick schärfen, es wäre schon viel gewonnen.
Was aber ist nordrhein-westfälische Architektur? Bauwerke von Architekten, die in NRW geboren sind und/oder hier leben und arbeiten, oder schlicht alles, was hier gebaut wird? Die Frage und ihre hilflosen Antworten führen schon mitten hinein in die Provinz, die das Buch im bevölkerungsreichsten Bundesland, bei aller Offenheit und Internationalität (»Europa im Kleinen«), auch ausmacht und überwinden helfen möchte, stimmen die Grenzen der Bautraditionen hier doch so wenig mit denen des Landes überein wie die der Brotformen oder Biersorten. Die Veröffentlichung zieht so souverän wie notgedrungen den einzig möglichen Schluss und führt die Kirchenburgen des Kölners Gottfried Böhm ebenso in ihrer Bilanz wie die Kunsthalle Bielefeld von Philip Johnson, das (der Klassischen Moderne verpflichtete) Bonner »Kanzlerbungalow« des Münchner Architekten Sep Ruf oder das Kölner »Weltstadthaus Peek & Cloppenburg« von Renzo Piano.
So öffnet das Buch ein weites, anspruchsvolles Panorama an Bauaufgaben und Gebäudetypen, ästhetischen Positionen, architektonischen Haltungen und Selbstverständnissen, auch an stadtbildprägenden Bauten, Landmarken und Wahrzeichen, gerade weil es sich nicht auf ein name dropping (Botta, Foster, Gehry, Jourda & Perraudin, Hollein, Peichl, Schultes, Ungers…) fixiert, sondern auf die spezifischen Herausforderungen und Lösungen abhebt, wie sie insbesondere der Struktur- und eben auch Kulturwandel (nicht nur) im Ruhrgebiet mit sich bringt. Denn am ehesten liegt hier eine Eigenheit und auch eine gewisse Pionierleistung der Architektur und Ingenieurkunst in Nordrhein-Westfalen: Die erhaltenswerten (und doch nicht durchweg »geretteten«) baulichen Hüllen und Hinterlassenschaften der Schwer-, aber auch der metallverarbeitenden und Textilindustrie zu sichern und ganz verschiedenen neuen Nutzungen, nicht nur der Kultur, sondern des Gewerbes und sogar der Verwaltung, zuzuführen. »Nordrhein- Westfalen, ein Land under construction, scheint im Begriff«, so Wolfgang Roters, Geschäftsführer des neuen (dezentralen und ohne eigenes Domizil operierenden) Museums für Architektur und Ingenieurkunst NRW M:AI, in seiner bemerkenswerten Einleitung, »sich in dem Sinne als das Transformationsland mit einer unverwechselbaren Transformationskultur zu begreifen.«
Zwei Rheinüberquerungen in Köln, die Deutzer und die Rodenkirchener Brücke, noch während und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet, sind die ersten (der insgesamt 88) Projekte, die einzeln vorgestellt werden. Das gewinnt, zumal in einem Bindestrich-Bundesland, nicht nur metaphorische Bedeutung, sondern auch programmatische Aussagekraft. Denn Architektur wird hier sehr umfassend verstanden. Der Ingenieurbau, hier gar die »Ingenieurkunst«, figuriert nicht länger als ihre deren Stiefschwester, sondern als gleichberechtigter Partner: Gerade Brücken, auch Straßen, Tunnel, Autobahnkreuze, Straßenbahn- und Bushaltestellen, Fern- und U-Bahnhöfe oder Flughäfen gehören, oft »einschneidender« für die Landschaft und entsprechend stärker und »unvermeidbarer« in der öffentlichen Wahrnehmung, dazu, auch wenn sie am Ende nur einen Bruchteil der Projekte ausmachen. So wird kein einziger Fernsehturm und nur eine U-Station (Lohring in Bochum) berücksichtigt, und auch ein für das Land so identitätsbildender Ort wie das Fußballstadion wird, trotz Vorzeige- Arenen in Gelsenkirchen und Köln, keiner Einzeldarstellung für würdig erachtet.
Das Werk ist in Zehn-Jahres-Ringen gegliedert, die sechs Kapitel bilden, sechs Zeitfenster öffnen. Eingeleitet von stichwortartigen »Zeitreisen«, die (welt)politische Ereignisse und historische Daten, aber auch Schlager- oder Filmhits nennen, eingestimmt durch literarische Texte, die Zeit- und Lokalkolorit vermitteln, ergänzt und verbunden durch eingeschobene Gespräche und Betrachtungen, Erläuterungen und Problemskizzen zu einzelnen Themen und Phänomenen, wird eine perspektivenreiche Darstellung entwickelt, um die Projekte, auch ganze Siedlungen, Gewerbeparks oder Ensembles, dann doch als Solitäre abzuhandeln. Die chronologische Abfolge, die eher auf Trends und Moden abhebt, denn Entwicklungsprozesse und Traditionslinien verfolgt, stößt dabei mitunter unnötig schnell an ihre Grenzen: So werden, um nur ein Beispiel zu nennen, das Drei-Scheiben-Haus (1960) von Hentrich, Petschnigg & Partner und das Schauspielhaus (1970) von Bernhard Pfau in Düsseldorf, weil sie verschiedenen Epochen angehören, gesondert und nicht in ihrer inzwischen geradezu emblematischen Polarität (Lippenstift und Puderdose) vorgestellt (und damit auch das Problem dazwischen, der Gustaf-Gründgens-Platz, ausgespart). Wie das eine auf das ganz andere Bezug nimmt, vor allem aber wie sich Bauaufgaben und Gebäudetypen, mit dem technologischen Fortschritt, verändert haben, muss so zu kurz kommen.
Die Kriterien der Auswahl werden nicht offengelegt. Sind es, nach wessen (herrschender) Meinung auch immer, die (jeweils) besten Gebäude oder schlicht die bekanntesten oder – schon eher – die, bei hochwertiger Bauqualität, für die Zeit aussagekräftigsten und repräsentativsten? Letzteres scheint am ehesten zuzutreffen und ist doch nicht so ohne weiteres abzuleiten. Denn auch wenn kaum ein Projekt darunter ist, dessen Aufnahme abwegig oder ungerechtfertigt erscheint, so stellt sich doch mehr als einmal die Frage, warum andere, vergleichbare und wichtigere Bauten außen vor bleiben. Warum werden der Düsseldorfer Medienhafen und der Duisburger Innenhafen berücksichtigt, aber nicht der Kölner MediaPark, warum die Dortmunder Westfalenhalle, aber nicht die KölnArena, warum fehlen, bei allerdings nur vier Theatern, jene in Köln (Opern- und Schauspielhaus), Wuppertal (Schauspielhaus) und Neuss, warum, bei insgesamt elf Museen, das alte Wallraf-Richartz-Museum von Rudolf Schwarz in Köln? Joachim Schürmann, Architekt (nicht nur) des nach ihm benannten und für die Deutsche Welle exzellent umgewidmeten Baus in Bonn, kommt gar nicht erst vor, ebenso wenig der im Köln der 50er Jahre stadtbildprägende Wilhelm Riphahn oder auch Norman Foster mit seinen avancierten Bürohäusern in Duisburg und Mülheim. Und von Paul Schneider-Esleben, über den es heißt, er gehöre zu Düsseldorf wie Karl Band zu Köln oder Hans Ostermann zu Münster, findet ausgerechnet – von wegen Ingenieurkunst! – sein größtes und innovativstes Opus keine Erwähnung: der Flughafen Köln-Bonn. Auch das Museum Kurhaus in Kleve und das Festspielhaus in Recklinghausen sind nicht vertreten, obwohl beide besonders originelle Referenzobjekte zum Thema Bauen im Bestand darstellen: So ausführlich dessen wachsende Bedeutung auch hervorgehoben wird, auf der Beispielebene wird es dann doch sehr kurz gehalten.
Schwerer noch wiegen Disproportionen bei den Texten. Einerseits wird fast jedes Projekt, ob Villa oder Wissenschaftspark, Siedlung oder Schule, mit zwei Seiten – links Erläuterung, rechts Foto(s), selten ein Grundriss – bedacht. Für die Benediktiner-Abtei Königsmünster in Meschede von Hans Schilling und Peter Kulka aber sind es vier Seiten, eine mehr als für den ganzen Duisburger Innenhafen. Kompetente Autoren kommen zu Wort, aber oft wird der Platz gar nicht genutzt, obwohl detailliertere Auskünfte hilfreich wären. Einmal, beim Aalto- Theater in Essen, muß sogar der ausschnittweise Nachdruck einer Zeitungsrezension von 1988 genügen, kritische Anmerkungen sind ausgesprochen spärlich, manches ist in der Diktion von Werbeprospekten gehalten. Insgesamt, auch das ein Problem des Landes, fehlt es an Außenansichten, das Thema Gartenkunst etwa übernimmt ein Abteilungsleiter aus dem Ministerium, um gerade mal den Inhalt der offiziellen Broschüren zu paraphrasieren. Statt der Akteure selbst wären kritische Begleiter womöglich die besseren, da distanzierteren Autoren gewesen, mehr Benutzer-, weniger Architektenperspektive hätten das Buch bereichert, mehr Subjektivität und mehr »Erzählungen« ihm gutgetan. Die Qualität der Fotografie ist, gelinde gesagt, schwankend.
Ein großes Lesebuch, ein, wie Wolfgang Roters es vorschwebt, »Projekt, das Nordrhein-Westfalen zum Erzählen bringt«, ist der Band nicht geworden, auch wenn die literarischen und essayistischen Einlassungen dazu ansetzen; und zum Standardwerk fehlen ihm mehr als ein Register und weiterführende Literaturhinweise. Aber als erste und breite Bestandsaufnahme schafft es eine solide Basis. Darauf lässt sich bauen. //
M:AI, Museum für Architektur und Kunst, Hg.: »Nordrhein-Westfalen: 60 Jahre Architektur und Ingenieurkunst«, 358 Seiten, zahlreiche Abbildungen, geb., Klartext Verlag, Essen 2007, 39,90 Euro.