Wer im Ruhrgebiet die harte Hand braucht, dem sagt die Berggate in Bochum etwas. Wer Kunsthistoriker mit Schwerpunkt Happening und Fluxus ist, dem möglicherweise auch. Und dann natürlich den Damen und Herren des Bundesliga-Tanzvereins »Ruhr-Casino Bochum e.V.«. Für alle anderen aber gibt es kaum einen Grund, die überlange Sackgasse im Stadtteil Hamme zu kennen, die sich so dicht an die Autobahn A40 drückt, dass an ihrem Ende nicht mal mehr Platz für eine reguläre Fahrbahn bleibt.
Hier steht als letztes Haus das mit der Nr. 69, ein zweistöckiger 60er Jahre-Kasten mit dem Charme einer Arbeitshose, das allerletzte Haus fürwahr. Taubengrauslicher Anstrich, öde Fenster in Reihe, die über die uralte Schallschutzwand hinweg in den Stau starren und von denen einige mit den Buchstaben BDSM beklebt sind – das Domizil des Domina-Clubs »Das bizarre Stahlwerk«. Hinter einer biederen Baumarkt-Haustür Typ Neobarock drohen ausschweifendes Schwarz und Rot und Latex (»eine halbe Stunde Tribut 150 Euro«), manche der Damen sprechen sogar Niederländisch.
Im Gebäudeteil daneben unterwirft sich der Tanzverein – eine Abteilung des VfL Bochum – dem Training von Standard, Latein und Formation, im Untergeschoss ließ es ein Kampfsportstudio krachen, ist aber gerade ausgezogen. Vielleicht auch schon seit längerem, denn in den auf ihre Weise bizarren Räumlichkeiten mit ihrem unebenen Boden, den welligen Spiegelwänden und der Bar im Italo-Western-Stil blüht der Schimmel.
UNORT ERSTER GÜTE
In dem Bruch geht Markus Ambach mit stillem Stolz umher. Berggate 69 ist ein Ort nach seinem Geschmack, ein Unort erster Güte, wie nur er ihn zu entdecken weiß, seit er im Kulturhauptstadtjahr 2010 das Projekt »B1|A40: Die Schönheit der großen Straße« erfand und kuratierte, um an menschenfeindlichen und scheinbar menschenleeren Flecken rechts und links der Monstertrasse durchs Ruhrgebiet Kunst und völlig vermurksten Stadtraum zusammenzubringen.
Eine »kulturelle Kreuzung« bedeutet die Berggate 69 für ihn. Die horizontale Achse dieser Kreuzung führt unter der Autobahn hindurch – Graffiti auf Fernwärmerohren, Wildgrün, Müll, Schmuddelkindertrampelpfade –, wo auf der anderen Seite natürlich nichts anderes sein kann als ein Schlachthof. Die vertikale Kreuzungsachse aber ist die Galerie Inge Baecker, eine historische Größe, die Lokalität für Happening und Fluxus im Ruhrgebiet der 70er Jahre. Und die war – tatsächlich genau auch in der Berggate 69.
Das ist fast zu viel. Es ist schon surreal genug, sich Abendgarderobe in geschlossener Tanzhaltung, Fessel-Sex und veloziferische Autobahn so dicht beieinander vorzustellen. Sich nun Allan Kaprow hinzuzudenken, wie er am 3. Oktober 1971 in dem Happening »City Works« die (damals noch niedrige) Mauer zur (damals noch) B1 überwindbar macht, während Harald Szeemann und, wer weiß, Mauricio Kagel und Wolf Vostell mittun, das übersteigt die Bereitschaft zum Strapazieren von Wahrscheinlichkeiten. Und doch ist es so, Berggate 69 ist Inge Baeckers Elternhaus, hier eröffnete sie nach dem Studium 1970 ihre Galerie und betrieb sie fünf Jahre, bis sie an den Bochumer Stadtpark umzog (und 1983 nach Köln).
Jetzt kommt es nur noch darauf an, die synchronen und diachronen Bizarrerien dieses Ortes sichtbar zu machen. »Museum Berggate« hat Ambach das Haus schon mal getauft; auf jeden Fall wird es Führungen unter und neben die Autobahn geben, schließlich liegt da auch noch ein schräges Schrebergartengelände und vielleicht tun die Schlachthofleute, die etwas Angst vor Öffentlichkeit haben, am Ende doch noch mit. Auch werden die Ruhr-Casino-Tänzer, wenn am 14. Juni die zweite Staffel von »B1|A40« begonnen hat, tanzen – ob unten bei den Kampfsportlern, ist noch nicht klar. Dort werden aber auf jeden Fall Fotos vom SM-Studio zu sehen sein (»Stahlwerkerinnen« im Interieur) und vor allem Doku-Objekte von der Aktion »City Works« (die das Museum Bochum besitzt). Und die Roma besorgen das Catering.
Genau. Zur horizontalen Achse gehört nämlich auch die Roma-Familie, die auf der Rückseite des Gebäudekomplexes Nr. 69 lebt und gerade unterm Partyzelt ein Lamm am Spieß brät. Gäste aus Frankreich sind auch da. Das Lamm ist merkwürdig groß, schmeckt aber ausgezeichnet, versichert Gabriela Oberkofler. Die aus Bozen gebürtige und in Stuttgart lebende Künstlerin hat ihre Buggelkraxe mitgebracht, hochdeutsch ihre Kiepe: ein vielleicht 1,30 Meter hohes Agglomerat von Häuschen aus pappedünnem Obstkistenholz, allerliebst zusammengetackert und von einem dito Kirchlein gekrönt. Eine Dorftrage und ein Tragedorf, mit dem sie heute gemeinsam mit Ambach all die Spielorte von »B1|A40« zum Fotografiertwerden in situ besuchen geht. »Das immerzu Herumreisen ist schön. Die Heimat ist auch schön«, sagt die Tochter Südtiroler Bergbauern. Nur gebe es ja Beides nie zusammen. Deshalb nehme sie in ihrer Arbeit »Buggelkraxe« das Dorf auf den Rücken und werde es während der »B1|A40«-Dauer bei Bauer Steineshoff vom Heißener Hof niedersetzen, um die Häuschen horizontal zu vereinzeln, sie sind ja nur mit dünnen Fäden aneinandergebunden.
Der Heißener Hof in Mülheim ist eine der Stationen der 2014-er Auflage von »B1|A40«, einer der typischen sonderbaren Kleinräume neben der großen Straße, die Markus Ambach entdeckt hat, Räume jenseits zielgerichteter Planungsinteressen und Nutzungszuordnungen. Wobei, die Steineshoffs nutzen ihre zwischen Autobahn, Straßen und Stadtbahntrasse eingequetschte Lage durchaus: Gänse- und Vierbeinerfleisch aus regionaler, artgerechter Haltung bietet ihr Hofladen an. Wobei das Rindfleisch von den Tieren stammt, die im Kreuz Kaiserberg immer unter der Autobahnbrücke weiden – regional eben. Im Juni, wenn es losgeht, werden sie ihren Teil zur »B1|A40-Wurst« beitragen: »Letztes Mal gab’s Honig, diesmal Wurst«, sagt Ambach: »Die Pelle ist schon gedruckt, mit Autobahn drauf und so«. Steineshoffs Gänse haben es ideell besser, sie bekommen eine Oper, die die Künstlerin Danica Dakić ihnen schreibt, gesampelt aus dem Chorgeschnatter ihrer Stimmen. Das sichert ein Überleben des St.-Martins-Tags zumindest auf symbolischer Ebene.
In der Nähe der Mülheimer Gänse wird, erzählt Markus Ambach, während wir auf der A40 von hier nach dort und dort fahren, ein halbiertes Zirkuszelt von Volker Lang aufgeschlagen, da wird es eine Aufführung der französischen Theaterzirkustruppe »My!Laika« sowie die eines Stücks geben, das Christine & Irene Hohenbüchler mit Jugendlichen und dem Roma-Schauspieler Nejo Osman erarbeitet haben. Thema, versteht sich, »Sinti und Roma im Ruhrgebiet«. Straße, ewige Bewegung, fahrendes Volk, das scheint hier die Klammer. Außerdem stand ja mal im Kreuz
Kaiserberg ein »Zigeunerlager«.
Von den Kunstwerken aus 2010 steht keines mehr. »Man soll diese vernakulären Landschaften zusammen mit der Kunst lesen, ja. Aber ver-kunsten möchte ich sie nicht«, verteidigt Ambach das Temporäre als Prinzip. »Kunst ist nicht geeignet, solche Unorte auf Dauer aufzuwerten. Das bräuchte einen ständigen Einsatz.« Eine Dauereinrichtung will Ambach aus »B1|A40« aber nicht machen, nach zwei Malen, glaubt er, ist sein Ansatz durchdekliniert. Inzwischen fahren wir an der Autobahntankstelle »Ruhrschnellweg « am Dückerweg in Bochum vorbei, ab Juni wird hier eine »Kfz-Begrüßungsanlage« der Gruppe »KUNSTrePUBLIK« arbeiten, d.i. eine Waschanlage mit immanentem Radiosender für Willkommenskulturmusik. Generell sind die Projekte diesmal gleichmäßig verteilt: Neben Bochum und Mülheim Duisburg-Kaiserberg (mobiler »Glücksspielautomat« von Jeanne van Heesweijk), Essen-Frillendorf (dem durchs Dreieck Essen-Ost zerlegten Stadtteil gibt Jakob Kolding mit herumstehenden Figuren oder Manuel Franke mit einer vor einem Haus schwebenden Fassade Würde zurück) sowie Dortmund rund um die Schnettkerbrücke (mit z.B. einer Strom produzierenden Windskulptur von »Performance Electrics« aus recycelten Straßenleitpfosten und Verkehrsschildern).
Ach ja, die 2010 so beliebten Wanderwege durch die Areale des Undefinierten wird es auch wieder geben. Und den Wanderpokal für das schönste Auto des Reviers.
14. Juni bis 6. September 2014. www.b1a40.de