TEXT: ALEXANDRA WACH
Die Grünflächen sind noch nicht reif zum Betreten. Das Grünzeug ist scheibchenweise zerhackt und wuchert wild auf den Tischen. Die Konturen eines blauen Wäschegestells haben bereits Position auf dem abgezirkelten Terrain eingenommen. Fotokopien von unzähligen, aus Zeitungen und Büchern ausgeschnittenen Männerköpfen sind mit Wasserfarbe grün koloriert. Die Politiker, Soldaten, Befreiungskämpfer und Kriegsopfer verwandeln sich mit jedem Scherenschnitt in Blattwerk. Ihnen fehlt eigentlich nur noch ein Platz im Gebüsch. Und wie Lemuren aus einer Totenwelt blickt einem eine nichts Gutes versprechende Ahnenreihe entgegen.
Bis zu vier Monate dauert das Schnipsen und Kleben. Zwei Assistenten hocken am Boden und beraten den nächsten Schritt. Archivschachteln beherbergen, nach Stichworten wie USA, Russland, Nazis oder Nahost geordnet, das akribisch gesammelte Bildmaterial. In einem Schubladenschrank lagern die bereits geklebten Vorlagen. Sie reihen die Gesichter von Auschwitz-Opfern aneinander, markante Schauspielersilhouetten oder eine Galerie von Massenmördern.
Der erste Eindruck im Atelier des weltbekannten Videokunst-Pioniers Marcel Odenbach ist befremdlich, befindet man sich doch inmitten eines Panoptikums zwischenmenschlicher Entgleisungen. Ein bisschen erinnert der weiß gestrichene Raum mit den großen Altbaufenstern an eine Tapisseriewerkstatt. Stück für Stück müssen die Einzelteile zu einem großen Tableau gewebt werden, nur dass die fertigen Motive nicht gerade den Ruhm der Dargestellten steigern. »Wir sitzen hier gerade an einer neuen Serie«, erzählt der Hobbygärtner gut gelaunt, »es geht um Grünflächen, deren Symbolik nicht sofort erkennbar ist. Ich habe mich schon im Studium mit den englischen Gartenlandschaften beschäftigt, mit Ruinen und all den Metaphern des Vergänglichen. Die Idee des Gedenkens habe ich in meinem Werk mehrfach aufgegriffen. In dem Video ›Im Kreise drehen‹ etwa über das Mahnmal im Konzentrationslager Majdanek in Polen, oder in der Collage ›You can’t see the forest in the trees‹, die sich im Besitz des Museum of Modern Art befindet. Ein Birkenwald, der ebenso Assoziationen an das KZ Birkenau hervorruft als auch an die kilometerlangen Wälder in Russland, in denen die deutschen Soldaten die Orientierung verloren. Die Geschichten hinter den Grünflächen sind nicht so leicht zu identifizieren. Es geht etwa um die Brandanschläge in Solingen, die jetzt genau 20 Jahre her sind. Oder um den Aldi-Gründer Theo Albrecht, eine mysteriöse Figur der alten BRD, mit einem weltumspannenden Geschäftsimperium und einem anonymen und billigen Grab, das partout kein Mausoleum sein möchte«.
EIN ATELIER ZUM ALTWERDEN
Seit 1986 teilt sich Odenbach mit anderen Künstlern das städtische Atelierhaus V6 in Riehl. Über seinem Arbeitstisch hängen unzählige Inspirationsquellen. Postkarten von muskelbepackten US-Rappern in der Pose eines Pin-up-Boys, Angela Merkel in einem Flugzeug der Bundeswehr, die türkische Flagge, ein Porträt von Peter Ludwig und dem Jazz-Genie John Coltrane. »Auf dem Gelände kann man gut alt werden«, erzählt der 60-Jährige selbstironisch, um von den mitunter privaten Bildern abzulenken, »ein Seniorenzentrum und ein Kindergarten sind schon da«.
Die Kindheit lässt ihn ohnehin nicht los. An einer Wand hängt die großformatige Collage »Der letzte Tag«. Sie zeigt das Fremdenzimmer im Haus seiner Großeltern, in dem er als Junge oft geschlafen hat. Ein mit bunten Vogelbildern und alten Schriftseiten beklebter Vorhang drängt sich in den Vordergrund des »Vögelchenzimmers«. Ob da ein dunkles Geheimnis lauert?
FAMILIENPOSTKARTEN AUS DEM KONGO
Hört man den im wohlhabenden Kölner Stadtteil Marienburg aufgewachsenen Odenbach von seiner Familie erzählen, ist sofort der Stolz auf die fünf Architektengenerationen spürbar, die entfernte Tante, die Klavierlehrerin am Wiener Hof war, den Professorenonkel, der für den Kaiser Kirchenfenster baute, den Großvater, der in Konstantinopel gelebt hat, die Mutter, die Kunst studiert hatte. »Es gab keine Soldaten drunter«, betont er entschieden. Ein Teil hatte jüdische Wurzeln, von den belgischen Verwandten bekam er Postkarten aus dem Kongo. Wenn man ihn damals gefragt hat, was er werden wollte, sagte er: Afrikaforscher. Das ist er auch geworden, wenn auch nicht im klassischen Sinne. »Unser Nachbar war der damalige WDR-Intendant Klaus von Bismarck. In seinem Wohnzimmer sah ich eine riesige Karte unabhängiger afrikanischer Staaten. Das hat mich tief getroffen. Sie hatte nichts mit den gängigen, idealisierten Klischees und Projektionen über den Kontinent zu tun. Sie wagte sich auf Augenhöhe mit den Kolonialbesatzern«.
Bevor der angehende Künstler mit Udo Kier und Michael Buthe Anfang der 80er eine Kolonie in einem Alten Kraftwerk in Ostheim gründete, hat er Architektur, Semiotik und Kunstgeschichte in Aachen studiert und über »Das Reise- und Expeditionsbild im 18. und 19. Jahrhundert« promoviert. Politisch geprägt von der 68er-Generation, ging er der Frage nach, inwiefern Reiseberichte westliche Klischeebilder, Vorurteile und Rassismus prägen. Er reiste durch Afrika und begann, dabei gewonnene Eindrücke in seine Arbeiten zu integrieren. In Ruanda drehte er ohne Genehmigung über den Genozid und übernahm später Gastprofessuren in Ghana. Inzwischen besitzt er dort auch gemeinsam mit dem Installationskünstler Carsten Höller ein Haus am Meer.
DER ONKEL AUS LUMUMBA
»Die Beweggründe sind immer persönlich, warum ich mich mit einem Thema beschäftige. Meistens haben sie mich schon als Kind geprägt«, konstatiert der heutige Professor für Film und Video an der Düsseldorfer Kunstakademie fast erstaunt. »Es geht mir eigentlich immer um die Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte, die natürlich großartig ist, weil sie so exemplarisch ist. Heute bedaure ich es, dass ich mich früher als Jugendlicher nie gefragt habe, warum ein Teil meiner Familie in Kongo war. Jetzt sind sie alle tot und jetzt frage ich mich das erst. Zum Glück gibt es das Internet. Ich habe in einer Doktorarbeit den Namen eines Vetters meiner Großmutter gefunden. Er war der Pflichtverteidiger von Lumumba. Das hat mich frappiert, und ich habe das Thema in einer Arbeit aufgegriffen.«
Die Ausstellung im Bonner Kunstmuseum, die sich jetzt ausschließlich den Papierarbeiten widmet, lässt Odenbachs identischen Umgang mit verschiedenen Medien nachvollziehen. Verschmelzen in seinen Videoarbeiten Ausschnitte aus Wochenschauen, Alltagsszenen, Schrift und eine aufwendige Tonspur zu narrativ aufgeladenen Assoziationsfeldern, sorgen in den Collagen gezeichnete, geschriebene und fotokopierte Elemente für kontrastreiche Irritationen.
Die aus über drei Schaffensjahrzehnten getroffene Auswahl ist reich an Werken, die in die Geschichte Afrikas eintauchen, etwa die fotografisch genaue Porträtcollage von Joseph Kabila, des derzeitigen Präsidenten der Demokratischen Republik Kongo. »Der Kabila-Clan ist schon lange an der Macht«, erzählt Odenbach. »Sein Vater hat den Präsidenten Mobutu gestürzt, einen Diktator, der 30 Jahre lang das Land in den Abgrund gewirtschaftet hatte. Joseph Kabila ist jemand, der den Moloch noch am Leben hält und ihn auch einigermaßen in Griff hat.«
ALTERNATIVE TELEVISION
Eine Collage von 1977 trägt den sarkastischen Titel »Sich selbst bei Laune halten«. Das Konzept für die gleichnamige Videoarbeit erweist sich erst beim genauen Hinsehen als ein aufwühlendes Zeitdokument. Unter dem Eindruck des Deutschen Herbstes entstanden, versammelt sie Medienbilder von den Anschlagstatorten der RAF, Polizei-Beamte während ihrer Jagd auf die Terroristen und die Aufnahmen von Peter Lorenz und Hanns Martin Schleyer als Geiseln. Dazwischen tauchen bunte Zeichnungen von Geduldspielen auf. Die RAF, ein Haufen von ungezogenen Spielverderbern, die sich an die Regeln nicht halten wollten?
Klingt fast schon autobiografisch. Während die Republik auf ihren papiernen Beinen die Selbstsicherheit verlor, gründete der Student mit seinen Kommilitonen Ulrike Rosenbach und Klaus von Bruch ihr eigenes Fernsehen, das zwar in einem bescheidenen Umkreis von nur ein paar hundert Metern ausgestrahlt wurde, aber dafür einen revolutionären Namen trug. »Es gab damals drei staatliche Kanäle«, erinnert sich Odenbach. »Und wir hatten die Vorstellung gehabt, einen Kanal zu schaffen, der einerseits stark darauf aufbaut, was man sieht, und andererseits einen subversiven Charakter hätte. Unser Projekt hieß erst ›Alternative Television‹ und dann waren wir die ›Videorebellen‹. Unser Vorbild war ein frühes Bürgerfernsehen in Bologna, das den Kanal zur Sanierung eines Stadtviertels nutzte. Der Umgang mit dem Medium Video hat sich inzwischen sehr verändert. Jeder kann sein eigenes Programm gestalten. Das ist schon eine Traumvorstellung von mir und vielen anderen gewesen. Mein Wunsch war aber auch, ein viel politischeres Fernsehen zu machen. An die Finanzierung haben wir gar nicht gedacht. Das kommerzielle Privatfernsehen und das Internet, das von vielen heute ausschließlich zur Selbstbespiegelung benutzt wird, gänzlich unexperimentell, war nicht unser Ziel.«
ZU VIEL KUNST IST UMWELTVERSCHMUTZUNG
Dass sich eine ganze Schau seinen Papierarbeiten widmet, wäre für den jungen Kunstbegriffzertrümmerer dieser Aufbruchjahre eigentlich ähnlich undenkbar gewesen. Kunst durfte alles, bloß keine Ware sein, die als dekorativer Wandschmuck an einer Wand dahin dämmert. »Ja, ich habe mich verändert«, gesteht er altersmilde. »Vielleicht bin ich weniger radikal geworden. Die Papierarbeiten haben am Anfang nur als Entwürfe für die Videos gedient. Dann haben sie sich völlig verselbstständigt. Wenn man sich aber beide Stränge, Video und Papier, anschaut, gibt es auffällige Parallelen, allen voran die Idee des Collagierens. Video ist ja irgendwann sehr kommerziell geworden, was mich auch desillusioniert hat. Isaac Julien etwa hat als politischer Experimentalfilmer angefangen. Produktionen unter einer Million Pfund fasst er heute erst gar nicht an. Das ist mir zuwider. Deswegen habe ich auch nie Film machen wollen. Ich möchte unabhängig sein, mein eigener Produzent, Schauspieler, Kameramann in einem. Ich hoffe, dass in zehn Jahren wieder eine Generation kommt, die diese Form von Unterhaltungsvideo ablehnt. Je älter ich werde, desto weniger möchte ich ohnehin produzieren. Ich empfinde es auch als eine gewisse Art von Umweltverschmutzung, so viel Kunst in die Welt zu setzen. Mit Video lasse ich mir jetzt erstmal Zeit.«
19. September 2013 bis 5. Januar 2014, Kunstmuseum Bonn; Tel.: 0228/776260. www.kunstmuseum-bonn.de