Wer mit einer Zeitmaschine 200 Jahre zurück reisen würde, könnte im kleinen Bergneustadt sicher ein Getränk in der Gaststätte nehmen, die heute Jägerhof heißt – und immer noch Gäste empfängt. Das alte Fachwerkhaus im Oberbergischen Land ist das Wohnzimmer der Altstadt. Als der Betreiber Heinz Jaeger mit Anfang 70 auf die Idee kam, den Laden zu verkaufen, war schnell klar: Die Kneipe mit großem Veranstaltungssaal seit 1901 muss erhalten bleiben. Aus Gründen der Nostalgie, aber auch um Bergneustadt fit für die Zukunft zu machen. Dafür kam ein Programm des Landes NRW gerade recht: Es heißt »Dritte Orte«, mit dem das Kulturministerium Häuser für Kultur und Begegnung im ländlichen Raum fördert.
»Anfang 2020 sind wir nach Dortmund gefahren, um uns mit dem Jägerhof einer Jury zu stellen«, erinnert sich Dieter Rath, der das Projekt als Pressesprecher unterstützt. »Wir hatten fünf Minuten Zeit und haben statt eines trockenen Vortrags einen vorher mit einem Regisseur eingeübten Jäger-Sketch aufgeführt.« Dabei hat der Jägerhof in Wirklichkeit gar nichts mit Jagd-Tradition zu tun, sondern verdankt seinen Namen schlicht und einfach der Familie, in deren Besitz er seit 1910 war. Da der Jägerhof jetzt eins der Vorzeigeprojekte des Programms ist, kam im Sketch offenbar gut rüber, was die Bergneustädter vorhatten: Sie wollten eine Genossenschaft gründen, die den Hof von der Stadt pachtet und ihn zu einem kulturellen und kommunikativen Treffpunkt weiterentwickelt. »Das bedeutet zum Beispiel, dass hier nicht in erster Linie kulturelle Veranstaltungen stattfinden, sondern auch Doppelkopfrunden oder Familienfeste.«
Klar war allerdings auch, dass das denkmalgeschützte Gebäude ertüchtigt werden muss. Also brauchte die Initiative eine Menge Geld, das nun aus mehreren Quellen zusammengekommen ist: Das Land schüttet über das »Dritte Orte«-Programm in zwei Förderphasen 500.000 Euro aus. Die Stadt Bergneustadt hat im Frühsommer dieses Jahres sogar 3,5 Millionen Euro für die Sanierung bewilligt – und schließt über 50 Jahre einen Pachtvertrag mit der Genossenschaft als Betreiber.
Anlaufpunkt für die Sommerfrische der Städter
Wenn man heute an einem Sonntagmorgen in den Jägerhof kommt, dann sitzt da schon eine Runde offenbar alteingesessener Bergneustädter (tatsächlich fast ausschließlich Männer) beim Frühschoppen mit dem oberbergischen Zunft Kölsch aus den traditionell kleinen Gläsern. Der Kneipenraum sieht mit seinen niedrigen Decken und über die Jahre mehrlagig gestrichenen Holzstreben aus wie der Ausstellungsort eines Heimat- oder Freilichtmuseums. Neben Sprecher Dieter Rath ist auch der stellvertretende Vorsitzende der Genossenschaft Uwe Brustmeier gekommen, der im zweiten Beruf Heimatgeschichtler und Hausforscher ist.
Beide wissen, dass auch die Kneipe eine Ertüchtigung gebrauchen könnte: »Die Toiletten sind von anno dazumal und die Küche ist ausgerüstet für genau zwei Menüs: Frikadelle mit Kartoffelsalat oder Würstchen mit Kartoffelsalat.« Bei einer Begehung des Saals, der durch seine große Bühne und gemütliche Fachwerkoptik besticht, lässt Uwe Brustmeier Geschichte lebendig werden: »Anfang des 20. Jahrhunderts gab es einen regelrechten Hype der Ertüchtigung von Gaststätten. Hier trafen sich Schützen-, Krieger- oder andere Vereine und so wie ähnliche Orte im Oberbergischen war auch der Jägerhof ein beliebter Anlaufpunkt für die Sommerfrische der Städter.«
»Hier war jeden Abend, auch unter der Woche, Ringelpiez mit Anfassen.«
Uwe Brustmeier über den Jägerhof
Im Außenbereich zeigen die beiden, was mit der Sanierung im Laufe des kommenden Jahres entstehen soll: Ein »Backstage«-Raum für Künstler neben der Bühne und ein neues Foyer mit Eingang zum Garten hin, der auch für Veranstaltung genutzt und mit »Urban Gardening« verschönt werden soll. »Aber der Begriff ist natürlich Quatsch«, sagt Uwe Brustmeier schmunzelnd. »Wir sind hier auf dem Land und da pflegt man einfach seinen Vorgarten.«
Kritisch sieht er auch den Begriff »Dritter Ort«, der auf den Soziologen Ray Oldenburg zurückgeht, und nach dem Ersten Ort des Familien- und dem Zweiten Ort des Arbeitslebens, den Ort der Gemeinschaft und des Ausgleichs bezeichnet. »Wir Menschen sehnen uns nach Kategorisierung, aber die Orte greifen ja ineinander über.« Spätestens dann, wenn im Jägerhof Menschen zum Beispiel im Digitallabor an 3D-Druckern arbeiten.
Wie in vielen Städten des Oberbergischen Landes ist auch in Bergneustadt der Altersdurchschnitt höher als in dichter besiedelten Räumen. Deshalb ist Barrierefreiheit ein wichtiges Thema. »Bei jeder Hochzeit sind mittlerweile Gäste mit Rollstühlen und Rollatoren dabei«, weiß Dieter Rath. Deshalb wird ein ebenerdiger Zugang in Richtung des benachbarten Altenheims gebaut.
Schaut man in das Programm des Jägerhofs, wie die Genossenschaft es auch vor und während der Sanierung schon organisiert, fällt ein Name auf: Walter Jordan legt als »DJ« der Schellack-Disco auf. »Er ist eine Institution, ein echtes Original, wie in früher alle Städte in dieser Größe hatte«, sagt Hobby-Historiker Uwe Brustmeier. Jordan kennt in Bergneustadt jede*r: In der Rolle des Märchenerzählers und Gewürzhändlers Ali Ben Juffi trat er bei Mittelaltermärkten auf, die er mit dem Projekt »Kramer, Zunft und Kurtzweyl« auch selbst organisierte. 1979 hatte er eine Teestube in der Altstadt eröffnet, 2001 organisierte er die 700-Jahres-Feier der Stadt und 2004 versuchte er sich noch einmal als Gastronom im alten Rathaus.
Heute ist der 71-Jährige mit dem langen, grauen Ali-Ben-Juffi-Bart Leiter des Heimatmuseums. »Das Vorstellungsgespräch dauerte ungefähr 30 Sekunden«, erinnert er sich. Das Jägerhof-Projekt freut ihn riesig: »Einerseits ist es toll für den Jägers Heinz, so zu verkaufen, andererseits ist es eine optimale Ergänzung im Gefüge der Veranstaltungsstätten. Und ich habe im Jägerhof meinen ersten Striptease getanzt – als fesche Lola mit drei BHs und Mieder mit Spitzen.«
So ist Walter Jordan auch heute gern bei der Belebung des Jägerhofs dabei. In »seinem« Heimatmuseum bietet er als Alleinstellungsmerkmal rund um die Uhr Trauungen an – einige der Hochzeitsgesellschaften gehen danach zum Feiern rüber in den geschichtsträchtigen Saal. Vielleicht steht er dann mit zwei Kollegen an einem alten Grammophon und kurbelt den Plattenteller an. »Wir haben rund 900 Schellack-Platten und wollen die Disco in Serie veranstalten mit wechselnden Themen: Musik aus dem Berlin der 1920er- und 30er-Jahre oder Opern und Operetten.«
Warum er das macht, die Vergangenheit lebendig halten wie kein Zweiter in der Stadt? »Ich möchte einfach, dass sie nicht verloren geht. Und es macht mir Spaß. Ich habe schon als Jugendlicher tagelang in Archiven gesessen, um Fragen zu klären wie: Warum ist damals die Straßenbahn von Gummersbach nur zur Aggertalsperre gefahren – und nicht bis nach Bergneustadt?« Vielleicht hat Walter Jordan ja Glück und erlebt den Bau sogar einer neuen Straßenbahn – weil Dank so nostalgischer wie zukunftsträchtiger Kulturprojekte niemand mehr an der Stadt vorbeikommt.