Ein kleines Waldstück in der Nähe von Ratingen. Junge Menschen sitzen und liegen auf ausgebreiteten Decken, Plastikflaschen neben sich, jede Menge Taschen – es sieht nur kurz nach einem entspannten Picknick aus, dann startet die Arbeit wieder. Mit dem »Freiraum« und seinem eigenen Studio in Düsseldorf hat Ben J. Riepe eigentlich beste Proben- und Arbeitsbedingungen. In Corona-Zeiten ist aber Flexibilität gefragt. Weil in »Geschöpfe« neben Tanz auch Gesang eine große Rolle spielen soll, geht das Ensemble, so oft es das Wetter zulässt, nun nach draußen, wo sich die Aerosole schnell verflüchtigen.
Im Höseler Wald hat Riepe dafür einen ganz besonderen Ort entdeckt. Es ist, als wäre das Fleckchen direkt für die Stückentwicklung angelegt worden: Brusthoch wuchert der Farn auf einer Lichtung, dazwischen stehen schlanke Fichtenstämmchen, die mit ihren Rosetten aus Aststümpfen wie Riesenschachtelhalm aussehen. Eine Urzeitlandschaft. Etwas weiter hinten ein klassischer Mischwald, der romantisch von einem bemoosten Bachlauf durchzogen ist. Es wäre die reine Idylle, gäbe es da nicht das beständige Rauschen der nahen Straße und die hinter dem Buschwerk aufblitzenden Autos. Zur anderen Seite eine Fläche mit hüfthoch wucherndem Gras und gleich daneben ein Stück gerodeter Nadelwald, so wüst und grau, als wäre die Apokalypse gerade darüber hinweggefegt.
Der Titel »Geschöpfe« erinnert im Beethoven-Kontext an dessen Ballett »Die Geschöpfe des Prometheus«. Für Riepe ist das der gedankliche Ausgangspunkt, nicht so sehr der musikalische. »Wie weit Beethoven auch musikalisch eine Rolle spielen wird«, sagt Riepe, »muss sich im Prozess zeigen«. Das ist vor allem die Sache von Gordon Kampe, der als Komponist die Stückentwicklung begleitet. Er wird neue Musik für Riepe komponieren, dass Spuren von Beethoven darin eine Rolle spielen, ist aber längst nicht ausgeschlossen. Denn der Düsseldorfer Choreograf (ein Porträt über Riepe finden Sie hier) interessiert sich vor allem für den Prometheus-Mythos, den Übergang von der Natur zu Menschengemachtem und Technik, das unsichere Verhältnis des Menschen zu einer Natur, die längst nirgends mehr unbehelligt gegenwärtig ist. Der Kulturbruch, wie ihn Goethe in seiner Prometheus-Dichtung formuliert: »Hier sitz ich, forme Menschen / Nach meinem Bilde, / Ein Geschlecht das mir gleich sei, / Zu leiden, zu weinen, / Zu genießen und zu freuen sich / Und dein nicht zu achten, / Wie ich!«
Nach einer kurzen Pause schickt Riepe seine Performer*innen wieder in den Wald. Sie haben 20 Minuten Zeit, um sich einen Ort zu suchen und eine Improvisation zu entwickeln, allein oder zu zweit. Die Tänzer*innen schwärmen aus. »Oper interessiert mich, weil sich darin alle Formen der darstellenden Kunst vereinigen«, sagt Riepe. Das Wort »transmedial« hat er davor gesetzt, um diese Qualität noch einmal zu betonen. Vielleicht auch deshalb, weil Richard Wagners »Gesamtkunstwerk« etwas zu überholt und schwer daher kommt. Zumal für Riepe – anders als für Wagner – immer auch der Blick in die bildende Kunst eine große Rolle spielt. Für sein »Geisterfragment« etwa entwickelte er (Licht)-Räume, die an James Turrell erinnerten und so kraftvoll waren, dass sie auch unbespielt schon beeindruckten.
Die 20 Minuten sind rum. Die Performer*innen zeigen ihre Ergebnisse. Waithera Schreyeck und Leonie Türke haben sich einen rund vier Meter hohen Stapel aus Fichtenstämmen ausgesucht. Wie auf einem Berggipfel staunen sie in alle Richtungen, feiern mit ausgebreiteten Armen sich selbst und die Größe der Natur. Es duftet harzig. Dann verschieben die Tänzerinnen das Bild leicht ins Bühnenhafte. Stehen sie jetzt auf einem Podium, von dem herab sie das Volk grüßen?
Victor Zapata, choreographischer Assistent der Produktion, nimmt alles auf Video auf. Riepe schaut zu, die aufmerksame Spannung ist ihm stets anzusehen. Selten notiert er etwas in einem kleinen Buch oder macht ein Handyfoto. Die beiden Tänzerinnen sind fertig. Stille. Kein Kommentar von Riepe, nächste Station.
Die Proben im Wald sind mehr als nur Ansteckungsschutz. »Wir entwickeln Dinge im Studio und probieren sie dann im Wald aus. Genauso auch umgekehrt«, erzählt Riepe. Für ihn sei das eine ganz neue Arbeitsweise und ein Experiment. Bei der fertigen Produktion wird es keinen Wald geben. Auf der Bühne müssen die Performer*innen und die Inszenierung für sich stehen, können sich nicht auf das enorm kraftvolle Naturambiente verlassen. »Manches, was hier im Wald großartig wirkt, funktioniert im Studio überhaupt nicht mehr.« Auch umgekehrt sei das durchaus denkbar.
Und ist es nicht schwierig für die Tänzer*innen, wenn sie nach einer Improvisation keine direkte Rückmeldung vom Choreographen bekommen? »In diesem frühen Stadium der Entwicklung möchte ich den Prozess so offen wie möglich halten. Ich versuche, die Tänzer*innen nicht in eine Richtung, die dann immer meine wäre, zu lenken.« Sich einlassen, um das zu nutzen, was ihm angeboten wird. Neues zulassen, um nicht zu sehr in einen Personalstil zu verfallen, der früher oder später sowieso dazu kommen wird.
Jolinus Pape kauert wie ein Frosch am Bach und scheint in das Glucksen hinein zu lauschen. Eray Gülay improvisiert im Laub, bis seine langen Haare voller Blätter sind und er zum Faun, zum mythologischen Naturwesen, wird. Igor Sousa und Paula Pau zeigen eine kleine, humorvolle Studie über die ungelenke Kontaktaufnahme mit einem Baum. Leonie Türke probiert eine Gesangsimprovisation vom Vortag im Farnurwald. Es ist ein eigenartig gepresstes, krampfartiges Hervorstoßen von Tönen, das sowohl an konvulsivische Zuckungen in einem drogengeschwängerten Naturritual wie an die Vokalverrenkungen von R’n’B-Sängerinnen erinnert.
Zuletzt folgen alle gemeinsam Paula Pau. Am Rande der Wiese legt sie ihre Kleidung ab, pflückt eine Hand voll Halme und schwingt das Büschel wie zur Segnung. Dann schreitet Pau langsam durch das Gras, ein koketter Blick über die Schulter fordert uns auf, ins Ungewisse zu folgen. Eine geheimnisvoll, geschlechtslose, wie erotische Erscheinung, die uns mitnehmen will in eine Natürlichkeit, zu der wir längst den Kontakt verloren haben.
»Geschöpfe« von Ben J. Riepe hat am 29. Oktober im Tanzhaus NRW Düsseldorf Premiere.
Weitere Vorstellungen: 30. und 31. Oktober, www.tanzhaus-nrw.de
Am 4., 5. und 6. September zeigt Ben J. Riepe sein Stück »Creature« im Rahmen der »DC Open« in der Düsseldorfer Galerie Kunst & Denker Contemporary. Die Installation in den gesamten Galerieräumen wird zu festgelegten Zeiten (Fr 19-21 Uhr, Sa 17-19 Uhr, So 15-17 Uhr) vom Ensemble live bespielt: www.dc-open.de