Raus auf das graue Band und weiter? Die kultur.west-Redaktion hat Bücher über das Unterwegssein zusammengestellt.
Immer weiter
Mit Lucy Fricke auf dem Weg durch das Leben
Zwei Freundinnen, Martha und Betty, fahren in einem alten Golf in die Schweiz. Auf dem Rücksitz: Kurt, Marthas krebskranker Vater. Ihr Ziel: Eine Klinik, in der er sterben kann. Was nach einer tieftraurigen Geschichte klingt, wird in Lucy Frickes Roman »Töchter« zu einem rasanten Roadtrip voller Humor und skurriler Situationen. Fricke erzählt vom Abschied nehmen und Wiederfinden, von Vätern, Müttern, Kindern und all den anderen Menschen, die ein Leben prägen. Und wie es sich anfühlt, eine Frau um die 40 zu sein, die ein wenig aus der Spur geraten ist. Frickes Ton wird dabei nie sentimental, sondern bleibt immer leicht und warm. Denn am Ende des Buches steht die Erkenntnis, dass das Leben trotz allem irgendwie weitergeht. Und dass man manchmal einfach »durchbrettern« muss.
Lucy Fricke: »Töchter«, Rowohlt, 240 Seiten, 12 Euro
Zwischenorte
Florian Werner huldigt dem Zauber deutscher Raststätten.
Eine nachgebaute Freiheitsstatue grüßt zwar vom Dach der Tankstelle, die große weite Welt sieht aber anders aus. Die Raststätte Garbsen Nord markiert die mobile Mitte des Landes nahe Hannover an der A2, jene Ost-West-Achse, auf der die LKWs aus Polen Richtung Ruhrgebiet oder weiter nach Rotterdam brettern. Kein Ort, an dem man normalerweise länger bleibt außer den wenigen Minuten beinsteifen Herumwandelns nach stundenlangem Sitzen. Danach wieder raus auf das graue Band und weiter. Florian Werner ist hingegen geblieben und hat sich im Sommer 2019 für seine literarische Liebeserklärung an die Raststätte einquartiert – an diesem »Ort von hinreißender Durchschnittlichkeit«. Er entdeckt eine eigene kleine Welt an der Autobahn, stöbert im Gästebuch des Restaurants – »Immer wieder schön. Danke für die Gastlichkeit. 2.11.74. Herbert Wehner.« – und trifft Menschen vor Ort, wie den Wirt, einen Botaniker und einen alten Flaschensammler, der einzige, der mit Fahrrad nach Garbsen Nord kommt. Ergänzt wird die literarische Reportage durch affirmativ-romantische Fotos von Christian Werner: In Wasserdampf schwitzende Bockwürste, die Einrichtung im Stil der 90er, pausierende Trucker. Anders darf es auf einer Raststätte auch nicht aussehen.
Florian Werner: »Die Raststätte – Eine Liebeserklärung«, mit Fotos von Christian Werner, Hanser, 192 Seiten, 22 Euro
Vater und Sohn
Dem Trauma entfliehen in Bov Bjergs »Serpentinen«
Kurvenreich und steil sind die Straßen, die ein Vater mit seinem Sohn entlangfährt. Es sind die Serpentinen in den Hügeln und Bergen seiner schwäbischen Heimat. Gemeinsam mit seinem Sohn kehrt er zurück an die Orte seiner Kindheit: das Geburtshaus, die Kirche, die Schule, der Friedhof. Der Vater ist depressiv, trinkt zu viel Alkohol, und er hat Angst. Denn auf seiner Familie lastet ein Trauma, das auch ihn einzuholen droht. In knappen, präzisen Sätzen entwirft Bov Bjerg in »Serpentinen« das tieftraurige Porträt einer deutschen Familie. Er erzählt von einem Mann, der nichts anderes versucht, als ein guter Vater zu sein – und dabei von den Dämonen seiner familiären Vergangenheit eingeholt zu werden droht. Aber vielleicht bekommt er unerwartete Hilfe. Schließlich fährt er im Auto nicht allein.
Bov Bjerg: »Serpentinen«, Claasen, 272 Seiten, 22 Euro
Unterwegs durch Mississippi
Durch die Südstaaten fahren mit Jesmyn Ward
»Ich stelle mir gerne vor, dass ich weiß, was der Tod ist. Ich stelle mir gerne vor, dass er etwas ist, dem ich ins Auge sehen kann.« Jojo ist 13 Jahre alt, als er das sagt. Die Worte des schwarzen Jungen bilden den Anfang von Jesmyn Wards Roman »Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt«. Sie ziehen direkt hinein in eine intensive Geschichte, die in den amerikanischen Südstaaten spielt. Eine Geschichte über familiäre Bindungen und ihre Grenzen, über Rassismus, Armut, Würde und Gewalt – und die Liebe. Gemeinsam mit seiner kleinen Schwester Kayla und seiner drogenabhängigen Mutter Leonie ist Jojo unterwegs. Sie fahren unendliche Kilometer durch das stickig-heiße Mississippi, um ihren weißen Vater aus dem Gefängnis abzuholen. Ward erzählt von dieser Reise so sinnlich und eindrucksvoll, dass man glaubt, selbst mit den Kindern auf der Rückbank zu sitzen. Am Ende des Buches wird die Familie zurückkehren – und Abschied nehmen müssen.
Jesmyn Ward: »Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt« Ullstein, 304 Seiten, 10 Euro
Eine europäische Geschichte
Lana Bastašićs Roadtrip durch die Geschichte Jugoslawiens
Zwölf Jahre lang haben Lejla und Sara nichts mehr voneinander gehört. Ihre Freundschaft ist genauso auseinandergebrochen wie ihre Heimat, das ehemalige Jugoslawien. Sara hat diese Heimat verlassen, um in London neu anzufangen. Doch dann kommt der Tag, an dem Lejla sich aus dem Nichts bei ihr meldet – und Sara kehrt zurück. In einem Opel Astra ziehen die jungen Frauen schließlich gemeinsam weiter. Auf der Suche nach Lejlas verschollenem Bruder durchqueren sie nicht nur Bosnien und seine komplizierte Historie, sondern auch viele schmerzhafte Erinnerungen. Die Bosnierin Lana Bastašić hat mit ihrem Debütroman »Fang den Hasen» eine fesselnde Road Novel über das Erwachsenwerden geschrieben. Trotzig, direkt und bildreich fängt sie dabei auch ein Stück europäischer Geschichte ein, das noch viel zu selten erzählt wird.
Lana Bastašić: »Fang den Hasen«, Fischer, 336 Seiten, 22 Euro