Wie ein vierblättriges Kleeblatt liegt es da, das Leverkusener Autobahnkreuz. Eingebettet auf einer Luftaufnahme in saftigem Grün. Umschmiegt von akkuraten Wohnsiedlungen in lieblichem Grau. 1970 feierte sich Leverkusen in einer Imagebroschüre als autofreundliche Stadt, die auf dem Cover nicht etwa das Schloss Morsbroich präsentierte. Sondern ausgerechnet einen Verkehrsknotenpunkt an der A1 und A3. Einige Kilometer von der ersten Autobahn Deutschlands entfernt, die ab 1932 Köln mit Bonn verband. Aber nur wenige hundert Meter von der Dauerbaustelle der maroden Leverkusener Rheinbrücke – und damit an »einer der größten und herausforderndsten Baumaßnahmen Nordrhein-Westfalens«, wie selbst die Straßenbauverwaltung des Landes erst kürzlich in einem nüchternen Erklärvideo verlautbarte.
»From A to B« heißt eine Ausstellung, die im Museum Morsbroich und damit ausgerechnet in der Autostadt Leverkusen künstlerische Postionen (auch) über Autobahnen zeigt – allerdings als Ausgangspunkt, um über lineare Entwicklungen an sich, über Straßen und Bewegungen, das Fortschreiten von Personen und Waren, Nachrichten und Datensätzen weltweit nachzudenken. »Es ist der Glaube, daß die Welt prozessual ist«, hatte es einmal der Philosoph Vilém Flusser ausgedrückt. Zu Sein bedeute ein »Werden« in einer Welt, in der alle Ereignisse ihre Ursachen hätten, alle Dinge ihren Ursprung, von dem aus sich die Geschichte und deren Geschichten entwickelten.
Dass die Imagebroschüre damals den Titel »Weg in die Zukunft« trug, hatte natürlich einiges mit der Fortschrittsgläubigkeit der 70er Jahre, aber auch mit der radikalen Stadtentwicklung in Leverkusen zu tun. Die erst 1930 gegründete Industriestadt betrachtete ihr gewaltiges Hochstraßensystem aus Stahl und Beton (einen Hintergrund zur Zukunft der autogerechten Stadt gibt es hier) auch als Zeichen einer automobilen Zukunft. Die Krönung? Das neue Autobahnkreuz, das einen Anschluss des rheinländischen Chemiestandorts an die Welt ermöglichen sollte.
Jahrelang hatte die Kuratorin und Fotoexpertin Heide Häusler (übrigens eine gebürtige Leverkusenerin) zunächst künstlerische Positionen über Straßen gesammelt. Keine typische Street Photography, die die Straße als soziales Gefüge, als Ort gesellschaftlichen Miteinanders dokumentiert. Sondern Fotos, die nicht nur die Schönheit von Autobahnen und ihrer eigentümlichen Betonarchitektur zelebrieren (wie etwa Catherine Opie), sondern auch ihre Ambivalenz etwa als landschaftszerschneidendes Konstrukt: 1995 bis 2003 dokumentierte Hans-Christian Schink Verkehrsprojekte in Ostdeutschland – menschen- (und auto-)leere Betonriesen im ländlichen Grün. Auf Sue Barrs Bildern ragen überdimensional wirkende Trassen in Italien scheinbar fast bis in die Wohnzimmer bemitleidenswerter Altbauten hinein, während auf Taiyo Onorates und Nico Krebs’ Aufnahmen Highways in der Endlosschleife ihre Runden drehen oder abrupt enden – an Abbruchkanten mit Blick auf das tosende Meer.
18 Künstler*innen hat Häusler ausgesucht, angefangen von Magnum-Fotografen wie Thomas Höpker, Ansel Adams oder René Burri, die ihrem Berufsethos zufolge möglichst wenig auf ihren Bildern inszenierten, bis zu den durchmanipulierten, absurden Straßen-Collagen von Frauke Dannert. Spannend dürfte Häuslers Ausstellung vor allem dann werden, wenn sie die reale Fahrbahn verlässt und Hans Gremmen per Google StreetView die Route 66 abfährt, um zugleich Fragen nach der Mobilität von Informationen aufzuwerfen. Wenn sich Ingrid Burrington mit globalen Datenströmen beschäftigt, die per Unterwasserkabel rund um den Globus ihre Bahnen ziehen oder uns Henrik Spohler auf die Lebensadern des Digitalen schauen lässt – und ins Innenleben von gigantischen Großrechnern.
Eine Straße hat End-, Anfangs- und Knotenpunkte. Straßen zerschneiden Territorien, trennen Vororte von Zentren, Stadtgebiete von der Peripherie. Sie verbinden aber auch – Länder, Städte, Menschen. Sind Hoffnungsträger im wahrsten Sinne des Wortes, wenn es um die Flüchtlingsströme unserer Zeit geht. Und sie scheinen, angesichts des Klimawandels, in ihrer Vielzahl und oft Überdimensionalität längst stadtentwicklerisch in einer Sackgasse angekommen zu sein. Wo wüsste man das besser, als im autofreundlichen Leverkusen und angesichts eines Virus’, der uns gerade dazu verurteilt, möglichst nicht zu reisen. Zu Hause zu bleiben. Und bestenfalls inne zu halten. Wie auf einer Straße treiben denn auch wir immer weiter voran. Das Leben aber kann eben nur vorwärts gelebt werden – aber dafür oft erst rückwärts verstanden.
9. März bis 11. April 2021