// Sturm über Israel. Das ist nicht metaphorisch zu verstehen, sondern ganz real. Das Gelobte Land kennt sich ja aus mit verhängten Plagen und Gerichtstagen, auch wenn und gerade weil das Volk des Bundes auserwählt und das Salz der Erde ist. Der klagende Mund und der träumende Mund sind von Alters her Ausdrucksformen jüdischer Existenz. Die Propheten hatten das zweite Gesicht, der Gottessucher Abraham, der erwählte Joseph und der Mann Moses waren Träumer vor dem Herrn.
Nun tritt Joel Kadmon hinzu, aufgewachsen im bürgerlichen Jerusalemer Vorort Beth-Hakerem, wo ashkenasische Juden ihre liberale Arbeiterpartei-Gesinnung wie ein Adelsprädikat weitervererben. Joel wird zum Außenseiter, seit ihm sein Schulfreund Amir genommen und aus der Enklave der Selbstgerechten vergrault wurde. Er trägt das Stigma des Sonderlings und Rebellen. Frucht dieser Rolle ist eine besondere Gabe, zugleich Auszeichnung und Verhängnis: die des Wiederträumens. Er kann fremde Träume abgreifen, rekonstruieren und an die schlafenden Traumbesitzer zurückgeben. Seine Fähigkeit aber ermöglicht ihm auch die Traumflucht, um sich aus der minderen Realität auszublenden.
Der (passenderweise) Kommunikationswissenschaftler Joel und seine träumende Frau Rachel leben in Tel Aviv. Zunehmend süchtig nach den sonst gewöhnlich verblassenden Träumen, überformt Rachels zweites, ihr nächtliches Leben zunehmend den Tag, den sie nur noch als nostalgischen Rest wahrnimmt. Als »Dienstleister« versorgt Joel in aller erbarmungslosen Klarheit Rachel mit ihren Träumen und gewinnt zugleich hybride Macht über sie. Das romantische Motiv vom Zauberreich der Nacht und ihrer Gegenwelt zum Profanen erfährt in »Der Wiederträumer« seine Verwandlung ins düster Bedrohliche.
Ein zweiter Erzählstrang in Nir Barams auf knapp 500 Seiten ausgreifendem Roman bindet die an ihrer vergangenen Kindheit sich wärmenden Zwillings-Twens Lior und Alon samt ihrem geschäftstüchtigen Vater Schlomo ein. Auch Alon, der zeitweise in einer psychiatrischen Anstalt untergebrachte Autist, ist ein Nachtmensch, symbiotisch auf seine Schwester bezogen, der Welt abhanden gekommen und auf der Suche nach Erinnerungen an seine verlorene Freundin Noa. Schließlich tritt noch der Bettler Jonathan auf, dessen krumm geschnitzte Biografie ebenfalls ausgebreitet wird. Joel engagiert ihn als Probanden, Alon pflegt mit ihm Austausch, bis Jonathan, der sich selbst fürs Traumgeschäft begabt zeigt, des Nachts ermordet wird.
Frühling in Tel Aviv. Aber die Stadt bleibt winterlich kalt und lichtlos. Das Morgengrauen lässt auf sich warten. Eine Epidemie wird befürchtet. Regen, Hagel, eisige Temperaturen sorgen für steigende Kindersterblichkeit, eine Wirtschaftskrise, erfrierende Obdachlose auf den Straßen. Ein anderer Rhythmus bestimmt den Alltag der sonst von Sonne verwöhnten, feierfrohen, säkularen Mittelmeer-Metropole, die hier wie Gotham City in einer Art »dumpfer Bosheit« und Gottes Gnade bedürftig erscheint. Die Naturkatastrophe aber ist Symbol und Symptom innerer Verwüstung und Selbstentfremdung, nachdem der soziale Kitt von Israels Gründerzeit längst bröckelt.
Von der alten sozialistisch-zionistischen Utopie und den abendländisch moralischen Standards, die spätestens in den 80er Jahren zerfielen und zur Folklore wurden, bis in die nebulöse Gegenwart, über der sich apokalyptisch Wolken ballen, reicht Barams intensive Fabel. Der 33-jährige Autor, Sohn eines Ministers im Kabinett von Yitzhak Rabin und engagierter Bürgerrechtler, konstruiert seinen Familien- und Gesellschaftsthriller wie ein Protokoll, variiert die zeitliche Abfolge im steten Wechsel der optischen Einstellung und schafft ein differenziertes Sozio- und Psychogramm, empfindlich und schmerzempfänglich wie das menschliche Nervensystem.
Es gibt kein Entrinnen vor dem Traum, der träumende Mensch wird zum wehrlosen Opfer, der Traumspender zum Alleinherrscher über die Schatten.. //
Nir Baram, Der Wiederträumer. Aus dem Hebräischen von Lydia Böhmer und Harry Oberländer,
Schöffling & Co., Frankfurt/Main, 2009, 478 S., 24,90 Euro.