Auch wenn er nicht mit von der Partie ist, meint man, in einer Marthaler-Inszenierung irgendwo immer Graham F. Valentine zu entdekken. Taucht die Spukgestalt mit dem flusigen Grauschopf nicht sogar im gesellschaftlichen Gewimmel um die Kurtisane Violetta auf, so wie der Schweizer Regisseur Verdis »La Traviata« an der Pariser Opéra in einem (von Anna Viebrock gebauten) Theater-Foyer eingerichtet hat? Valentine entspricht exakt dem Phänotyp menschlicher Existenz, wie Christoph Marthaler ihn auf seinen Bühnen kreiert. Was andererseits eine dreiste, fast brüskierende Behauptung ist, weil sie den rigorosen Individualismus neutralisieren würde, den Präzedenzfall, den überhaupt ein jeder darstellt – zumal in Marthalers Kunsträumen. Er, eine ideale Marthaler-Figur? Valentine blockiert und sperrt sich, und das liegt gewiss nicht nur daran, dass es morgens vor zehn in Salzburg ist und er die Verabredung akzeptiert hat, noch bevor die Probe beginnt: mit Marthaler und dem Klangforum Wien für eines dieser kuriosen musiktheatralen Abenteuer, wie es schon viele gibt. Dieses heißt »Sauser aus Italien. Eine Urheberei« – und ist eine Koproduktion der Salzburger Festspiele mit der RuhrTriennale unter ihrem gemeinsamen Generalissimus Jürgen Flimm. Valentine schlägt einen Haken, tut, als habe er das Wort »Phänotyp« nicht richtig verstanden, will die Bezeichnung für ein Medikament – ein Antidepressivum – herausgehört haben, das seine Mutter früher eingenommen habe. Valentine (auch das liegt vermutlich nicht an der frühen Stunde) schaut auf schläfrige Weise wach an einem vorbei, während er spricht. Die großen wasserblauen Augen, umflort vom aschigen Haar, schwenken seitwärts ab: ins Imaginäre. Dorthin, wo es keine Verbindlichkeit gibt mit dem Dialogpartner. Die stellt er lieber, wenn’s denn sein muss, sprachlich her. Der Blick bleibt ausgeblendet. Ein unausgesprochenes »I prefer not to«, die berühmte Unterlassungsformel von Melvilles Bartleby (übrigens vor einigen Jahren von Marthaler inszeniert an der Berliner Volksbühne), schwebt über dem Caféhaus-Tisch.
Es braucht halt Zeit. Nichts weniger als natürlich, wenn zwei, die sich fremd sind, begegnen. Allein die Routine des Selbstentäußerungs- Betriebs hat Hemm- und Reizschwellen niedergelegt und leistet der Erwartung Vorschub, dass ein jeder gleich mit Offenbarungen bei der Hand ist. Valentine kultiviert die Verzögerung – es scheint ihm wesenhaft. Er geizt mit sich, was allerdings im Zusammenhang mit einem Schotten dumm nach Klischee klingt.
Man weiß nicht viel über ihn, den Schotten Jahrgang 1949, der – bevor er in Paris an der Theaterschule Lecoq studierte – als Lehrer gearbeitet hatte. Mit dem Ende von Marthalers Intendanz in Zürich lebt er nicht mehr dort, sondern wieder in Paris, wenn er nicht in Hotels und Fremdenzimmern vagabundiert. In die Schweiz passt er jedenfalls besser als nach Österreich: in die calvinistische, tüftelige, grundanständige Atmosphäre besser als momentan ins barocke, katholische, schmähige Ex-Kakanien.
Der Unbekanntheitsgrad des Mannes mit dem bekannten und markanten Gesicht ist ihm ganz recht. Auch wenn er feststellt, es könne daran liegen, dass er nicht gefragt würde. Um pfiffig hinzuzufügen: »Es ist nicht gesagt, dass ich eine Antwort gebe!« Die Verweigerungshaltung (siehe Bartleby) mag Konsequenz einer von der Öffentlichkeit aus Bequemlichkeit gemachten Festlegung sein: Valentine, der Marthaler-Schauspieler. »Das finde ich blöd. Ein Etikett ist etwas für faule Leute.« Allerdings müsste man ein fleißiger und ein mobiler Mensch sein, um Valentines künstlerischer Fährte durch fünf Länder zu folgen und seine »Art von Leben« zu registrieren, wie er das Schauspielen nennt. Von Kunst mag er lieber nicht (»I prefer not to«) sprechen: »Das ist immer ein Urteil von Beobachtern.« Aber bringen wir die Marthalerei hinter uns, zum Abschluss kommt sie eh nicht, zumal vom aktuellen Scelsi-»Sauser aus Italien« zu reden sein wird. Den Marthaler-Stil prägt ein Widerspruch: extreme Ich-Setzung und die Suggestion kollektiven Einerleis. Jeder ein Sonderling, zusammengenommen ein Club der Verirrten und Verwirrten, von aus der Ordnung Gefallenen und unter die Mühlräder des Schicksals Geratenen: Müde und Beladene, Schlafwandler und Tagträumer, Fallsüchtige, Weltverlorene und Ichversunkene. Diese Randexistenzen, Untergeher und Liegengebliebenen stehen im Verdacht, lebenserhaltender Maßnahmen bedürftig zu sein.
Für Valentine gilt, nicht nur in der Produktion von Schönbergs »Pierrot Lunaire« durch Marthaler für die Salzburger Festspiele 1996, dass der Künstler sich als Existenzial-Clown aus dem Fundus des Buster Keaton und Samuel Beckett maskiert: Wenn er da im zu kurzen grauen Anzug in einem dieser desolaten Viebrock-Wartesäle und -Isolationstrakte hockt, grotesk tanzt und springt, sich verrenkt, rezitiert, singt und summt, dabei Timbre, Tempo und Tonfall ingeniös der Musik anpasst, und im Fall des Körpers immer auch die Situation des Geistes reflektiert und ein Bewusstsein schärft für das, was nottut. Über sich und verwandte Gestalten aus Marthalers Mikrokosmos – Matthias Matschke, Josef Ostendorf, Bettina Stucky, Ueli Jäggi – findet Valentine eine hübsche Definition: »Wir sind alle Rassepferde.« Ob es sich bei dem Regisseur demnach um Dompteur, Pferdeflüsterer oder Leithengst handelt, lässt er betont offen: »Wir machen einen möglichst interessanten Ausflug miteinander. « Am liebsten in offenes Gelände, nicht in bereits beackertes Gebiet. Bei der Objektwahl bevorzugt Valentine das Unfertige, Projekthafte: »Stücke interessieren mich weniger.«
Die Stunde Null, die Stunde, da sie nichts voneinander wissen, ist die schönste und beängstigend freieste auf dem Theater. Wie fängt es an? Prima, la Musica, sagte die Callas. »Immer mit der Musik, sie ist der Ausgangspunkt. Wir sind nur ihre Diener«, so sagt es Valentine. Bei »Sauser « gewiss, mit dem die Salzburger Festspiele den »Kontinent Scelsi« beschritten, so dass er bis ins Revier und in die Gladbecker Halle Zweckel ausufert.
Der Komponist Giacinto Scelsi (1905 bis 1988), mit vollem Namen Conte d’Ayala Valva, war ein Eigenbrötler, radikal in seinem Abweichlertum, innerhalb der Entwicklung des Minimalismus einen exzentrischen Akzent setzend, und mit Distanz zu musikalischen Stilen und Methoden der europäischen Moderne. Stattdessen hielt er Kontakt zu außereuropäischen Traditionen und Kulturen. Irgendwie aus der Zeit gefallen in seiner esoterischen Verweigerung, Selbststilisierung und Mystifikation, ist dieser Tonsetzer ein Sonderfall der Musikgeschichte, gewissermaßen ein realer Adrian Leverkühn. Klarheit und Verdunkelungsgefahr liegen bei Scelsi nah beisammen. Keine Fotografie existiert von ihm; ein eigenhändiges Porträt zeigt über einer Linie mit Signatur: einen leeren Kreis. Ein Zen-Emblem.
Perfekte Projektionsfläche für Marthaler und Company, darunter neben Valentine sieben weitere Mitspieler, u. a. Stucky und Ostendorf, Olivia Grigolli und Lars Rudolph. Auch deshalb, weil Scelsi lieber seine »Dekompositionen« improvisierte, als Noten zu fixieren, womit die Frage der »Urheberei« und künstlerischen Autorenschaft ansetzt, die nach Scelsis Tod seinen Mitarbeiter Vieri Tosatti anstiftete, sich als dessen Ghostwriter zu brüsten und das Meer der Klänge für sich auszuschöpfen. Der »Fundamentalist des wesenhaft vereinzelten Tones« (Hans-Klaus Jungheinrich) und »große Zampano der reinen musikalischen Materie« (Eleonore Büning) schrieb: »Die Musik kann nicht ohne den Klang existieren, aber der Klang existiert sehr wohl ohne die Musik. Also scheint es, dass der Klang wichtiger sei. Damit können wir beginnen.«
Und wieder bei Graham F. Valentine anzuknüpfen: seinen Klangräumen, seinen literarischen und musikalischen Exkursionen, seinem Spezialitätenkabinett, ob Purcell, Schubert, Shakespeare oder Beckett. Zwar bekennt er, englische Literatur nicht zu lesen, obwohl oder weil er geradewegs aus einem Roman von Charles Dickens (dessen »Weihnachtsabend« er als Hörbuch einlas), Thomas Hardy oder John Cowper Powys zu kommen scheint. Doch erzählt er, dass er kürzlich das Buch einer uns nicht geläufigen Engländerin, Anna Kavan, »Ice«, als Hörspiel aufgenommen habe. Solche Sachen erwähnt er demonstrativ en passant. Ebenso wie seine mehrstündige »Hamlet-Andacht«, die in Zürich jeweils sonntags für einen weltfrommen kleinen Kreis den Gottesdienst ersetzte. Nicht unerwähnt lässt er, dass Marthaler und seine Dramaturgin Stefanie Carp nie dieser dramatischen Ersatz-Religion gefrönt hätten, so wenig wie die meisten Schauspieler- Kollegen. Indiz dafür, dass das Verhältnis zwischen kreativen Köpfen von Spannungen nicht frei ist. Spöttisch fügt Valentine hinzu, dass das finale »Hamlet«-Solo mangels Masse ausfallen musste: Nur ein Zuschauer sei gekommen. Das Bekenntnis zum Misserfolg behagt ihm sichtlich. Ein Satz wie »Man muss nicht gut ankommen « geht ihm wonnig von den Lippen. Obwohl eine Wette, dass auch das Gegenteil ihm Gefallen bereiten würde, gute Gewinnchancen hätte. Gereizt habe ihn bei seiner Shakespeare-Performance die am klassischen Englisch des Laurence Olivier und John Gielgud geschulte Sprache, die mit akademischem Deklamieren nichts zu tun habe. Da schüttele es ihn, etwa wenn er – wechselnd ins deutsche Idiom – an den hohen Ton der Paula Wessely denke, die er übrigens auf der Bühne dargestellt hat: als »Erlkönigin« in Elfriede Jelineks »Macht nichts«, in Marthalers Uraufführungs- Inszenierung mit dem Mülheimer »stücke«-Preis 2002 ausgezeichnet. Der sprachempfindliche Valentine vertritt streng und leise das Primat der »Akustik vor der Semantik«. Da habe er, den seine Mutter fünfjährig zur Sprecherziehung schickte, »eine Hummel in der Hose«. Es sticht und juckt ihn. »Die Leute hören doch zunächst die Sprache als Rhythmus und Musik der Sprache.« Verstehen folgt später. Wobei für Künstler gilt, »dass man nicht alles wissen darf, wenn man spielt«. Barbara Sukowa sagte das, die in Salzburg unter der Regie von Barbara Frey die Marquise de Merteuil neben Jeroen Willems als Valmont in Heiner Müllers »Quartett« spielt. Der Untergangs-Romantiker Müller mit seiner Leibes-Totenmesse »Quartett« und der Untergangs-Romantiker Marthaler – da gibt es wohl lose Verbindungen, wie sie ein Festival programmatisch erstellt oder sich erfindet. Wobei die diesjährige Salzburger »Nachtseite der Vernunft« großzügiger Interpretationsspielraum bot als das Triennale-Thema »Mittelalter« es tut, in das Marthalers Scelsi-Unternehmung sich nur klemmend einklinkt. Andererseits, Marthaler passt immer.
Zurück zu Valentine, der noch mit ungerührter Miene höchst zivilisiert beim Kaffee sitzt und einen auflaufen lässt bei jedem Versuch, die Anteile von Persönlichkeit und Rolle in seinen Auftritten zu sortieren (im Film, wo er etwa bei Greenaway und in »Farinelli« zu sehen war, ist das einfacher). »Sie stehen vor einer Erfindung«, sagt er. Und es ist, als ob man zwei Spiegelflächen gegeneinander setzt zur unendlichen Brechung. »Der Moment der Beunruhigung« sei für Zuschauer ja durchaus produktiv. Sie sollen doch schließlich die gleiche Amivalenz spüren wie er selbst. Klar, »man steht zu seiner eigenen Figur«. Und hege zugleich Hoffnung, dass man die Kollegen noch überrascht, wie auch umgekehrt, dass deren Täuschungsmanöver in Erstaunen versetzt. Cocteaus Forderung »Etonne moi!« bleibt allzeit gültig.
Seltsamerweise klingt es weder einstudiert noch eitel, wenn Valentine gewissermaßen psalmodierend eine originelle Metapher bemüht: »Ich stelle mich zur Verfügung als Augenweide und lasse die Leute grasen. Vielleicht finden sie Nahrung. Vielleicht müssen sie, wie die Wiederkäuer, das Gefressene zweimal durcharbeiten und es dafür sogar hochwürgen.« Valentine hält auf Abstand, in beiden Sphären, der persönlichen und als Kunstfigur. Nur so komme er durchs Leben. Der abschweifende Blick gehört dazu. Ebenso die Abscheu gegenüber allgemeinen Handschüttel- und Umarmungs- Ritualen und deren spezielle Ausprägung im Milieu von Film und Theater. Unter viel Gleichmut, Sanftheit und ironischem Nachhall stößt man bei ihm auf einen anarchischen Kern. Als Valentine einen am Ufer der Salzach sitzen lässt, bleibt der Zweifel, ob man es nicht in aller Unschuld mit einem gewieften Selbstversteller zu tun gehabt habe. //
Gladbeck, Maschinenhalle Zeche Zweckel, Premiere: 4. September 2007, weitere Vorstellungen vom 6. bis 9. September, jeweils 20 Uhr; www.ruhrtriennale.de