TEXT UND INTERVIEW: ANDREAS WILINK
Mindestens 200 Seiten Textmasse, die über einen hereinstürzen, einen unter sich begraben, den Atem nehmen. Elfriede Jelineks undramatische Dramen – eigentlich endlose Monologe und Monomanien, massiv im Blocksatz – sind eine Zumutung. Vernichtungs-Anstrengungen. Man muss sie parieren, pointieren, rhythmisieren, zerlegen, chorisch aufladen: sei es mit theatraler Wucht eines Einar Schleef (»Ein Sportstück«, 1998), intelligent mokanter Feinsticharbeit (Thirza Bruncken bei »Stecken Stab und Stangl«, 1996) übermütig brutaler Performance-Artistik eines Christoph Schlingensief (»Bambiland«, 2003) oder postdramatisch switchender Coolness, wie von Nicolas Stemann mehrfach vorgespielt.
Eine Jelinek-Textfläche ist schon schiere Unendlichkeit. Und dann drei von der Güte! Karin Beier, der zustatten kommen mag, dass sie sich als Regisseurin gewichtiger Stoffe eher wie eine grazile Leichtathletin und weniger als plumpe Schwergewichtlerin verhält, beginnt ihre Saison mit einem programmatischen Uraufführungsprojekt der österreichischen Literatur-Nobelpreisträgerin. »Das Werk / Im Bus / Ein Sturz« kommt Ende Oktober in ihrem soeben zum »Theater des Jahres« gekürten Kölner Schauspielhaus zur Premiere. Die Katastrophe kennt kein Maß und macht keinen Sinn. Sie geschieht. Aber sie hat Ursachen: Menschliches Versagen bzw. unmenschliches Verhalten. Dem geht Jelinek auf den Grund, erliegend dem »Sog in den Untergrund«, wie es in dem kürzesten der drei Stückangebote heißt: »Im Bus« über einen Todes-Fall beim U-Bahn-Bau.
»Das Werk«, 2003 am Burgtheater uraufgeführt, beschäftigt sich mit dem gewaltigen Wasserkraftwerk in Kaprun, bei dem in den 1940er-Jahren mindestens 160 Zwangsarbeiter ihr Leben ließen, gespiegelt im und montiert mit dem Kapruner Seilbahnunglück aus dem Jahr 2000, bei dem 155 Wintersportler verbrannten. Schließlich »Der Sturz« – eine Kölner Affäre. Im März 2009 krachte das Historische Archiv an der Severinenstraße zusammen. Es starben zwei Menschen und entstanden Milliardenschäden aus dem Verlust an Urkunden, Akten, Nachlässen und Sammlungsbeständen, die das Gedächtnis der Stadt bedeuten.
Jelinek, die Totengräberin falscher Übereinkünfte und Erzählerin böser Märchen und finsterer Sagen, die Dinge ausgräbt, im Dreck wühlt, in den Hades hinabsteigt, klingt in dem vierzigseitigen »Sturz«-Bach wie eine biblische Untergangs-Prophetin und Kassandra après la lettre. Sie konfrontiert vier Protagonisten: die Erde, das Wasser, die Baufirmen und die Stadt und lädt die Weheklag mythisch auf, als handele es sich bei dem Geschehen um eine antike Tragödie. Es ist wie ein Kampf der Titanen (»Ich bin eine Tochter des Titanen«/ »Im Bus«) zwischen den alten Göttern, der Muttergottheit Erde und ihrem verhöhnten Naturgesetz, und den neuen Göttern, die niemand über sich zu haben glauben und heiliges Recht mit Füßen treten (»Wir fordern die Natur nicht, wie fordern sie an«). Zudem stiftet die Autorin eine erotische, triebgesteuerte, fehlgeleitete Beziehung zwischen der weiblichen Erde, die sich in blinder dummer Lust hingeben und preisgeben will, und dem männlichen Wasser in seiner ungebärdigen, alles überschwemmenden Gier und Geilheit. Ein Jelinek-Thema, bei dem beide Seiten und Geschlechter nicht gut wegkommen. Also eine ganz antiromantische Begegnung, anders als wenn der Himmel die Erde still geküsst hätte. Die Erde wird – gewissermaßen sturztrunken – zur Wasserleiche.
»EIN SCHARFES POLITISCHES STATEMENT«
Karin Beier im Gespräch über Jelineks »Ein Sturz«.
K.WEST: Sind Sie auf Jelinek zugegangen, um Sie um Textmaterial zum Kölner Archiv-Einsturz zu bitten, oder kam die Initiative von ihr selbst, wo das Thema doch ideal zu ihrem »Werk« passt?
BEIER: Wir sind auf sie zugegangen. Kölner Baugeschichten haben uns in der letzten Zeit ja sehr beschäftigt, also haben wir ein Stück zum Thema gesucht und uns an Jelineks Stück »Das Werk« erinnert. Dabei sind wir auch auf »Im Bus« gestoßen, der Text ist auf ihrer Homepage veröffentlicht und Teil eines bisher unaufgeführten Stückes für den damals schon todkranken Christoph Schlingensief. Wir haben ihr dann von unseren Plänen erzählt und schüchtern angefragt, ob sie uns nicht noch einen kleinen Epilog zum Einsturz des Stadtarchivs schreiben könne. Sie hat sofort zugesagt und einen Text verfasst, der tatsächlich eine Fortschreibung des »Werkes« ist – aber auch mehr als das.
K.WEST: Nach dem von Ihnen sehr engagiert geführten Kampf – auch mit Blick auf die kommunale Generallinie – um den Erhalt des Kölner Schauspielhauses, riskieren Sie nun künstlerisch die Konfrontation. Bürger rüsten sich, ob in Köln, Duisburg, Hamburg, Stuttgart gegen ihre gewählten Bürgervertreter. Wie fühlt sich für Sie die Rolle der Rebellin an?
BEIER: Letztendlich geht es um Verantwortung. Im Falle Duisburg ist wirklich schockierend, wie sich die Verantwortlichen aus der Affäre zu ziehen suchen, mit fadenscheinigen Argumentationen, die Kölner Statements nach dem Einsturz des Stadtarchivs bis ins Detail gleichen. Aber Verantwortung sollten in einer funktionierenden Demokratie nicht nur »die da oben« übernehmen. Ich persönlich bin eigentlich eher harmoniesüchtig, würde mich also über mehr Einvernehmlichkeit in der Auseinandersetzung durchaus freuen.
K.WEST: »Ein Sturz« kommt dem Theater entgegen, weil der Text die Erde sozusagen personalisiert, aus ihr geradezu eine Medea oder Klytaimnestra macht.
BEIER: Ja, das ist natürlich großartig, wie Jelinek den Stoff durch das Andocken an die antike Tragödie auflädt. Im Zentrum steht bei ihr allerdings weniger eine einzelne Figur wie Klytaimnestra, sondern der Chor, der der Natur – also Erde und Wasser – Schuld zuweist, also auch keine Verantwortung übernehmen will. Alle beteuern ihre Ohnmacht. Das ist ein scharfes politisches Statement. Verdrängung, die »endlose Unschuldigkeit«, ist in fast allen Texten Jelineks ein zentrales Thema.
K.WEST: Jelinek spielt formal deutlich mit Motiven der Tragödie. Wie ernst muss man das nehmen, und wie sehr ist es auch Travestie und Satyrspiel zum Trivialen einer systematisch bürokratischen und privatwirtschaftlichen Schlamperei und Fahrlässigkeit?
BEIER: Eindeutig Tragödientravestie, Parodie. Der Götterhimmel ist leer, dort thronen allenfalls selbsternannte Götter, die Baufirmen, die »Mächtigen«, die Verwaltung, die alle klagen und lamentieren. Das ist von bösartiger Komik, wie Dürrematt schon sagte: »Die schlimmstmögliche Wendung einer Geschichte ist die Wendung in die Komödie«.
K.WEST: Wollen Sie in Ihrer Inszenierung die mythische Ebene ebenfalls einziehen und den Klagegesang anstimmen – oder tritt bei Ihnen eine ganz andere Phantasie zu Tage?
BEIER: Natürlich gibt es auch andere Phantasien, die letztendlich jedoch mit dem Grundthema, der Frage nach Verantwortung, zu tun haben. Ich suche auch nach Formen des Verstummens, die man vielleicht nicht ad hoc mit Jelineks Sprachlawinen verbinden würde. Aber wie gesagt, letztendlich ist »Ein Sturz« als Satyrspiel zu verstehen, das schon in der Antike als komische Entlastung auf die Tragödie folgte. Ich glaube, die politische Provokation, die kalkulierte Unverschämtheit des Textes liegt darin, dass die Fallhöhe, der tragische Ton gar nicht mehr möglich sind anlässlich der lächerlich banalen Fehler: bürokratische Blauäugigkeit, Verdrängung, Profitgier, Schlampigkeit.
K.WEST: In einem kurzen Passus über »Ikarus« schreibt Jelinek: »Hätte nie gedacht, daß die Elemente dermaßen miteinander rivalisieren!« Im »Sturz« sind es die Elemente Erde und Wasser, die miteinander im Clinch liegen, aber die auch sexuelle Anziehung und Lust verbindet, bei der das Weibliche vom Männlichen sozusagen untergespült wird. Darf man flapsig sagen: Dumm gelaufen für Mutter Erde?
BEIER: Sicher darf man das. Wobei die Ironie für mich darin besteht, dass der Chor diese geradezu pornografisch beschriebene Szene herbei phantasiert. Ein wollüstiger Traum des Chores sozusagen.
K.WEST: Es ist auch eine amour fou zwischen Erde und Wasser, Penetration und Vergewaltigung inklusive.
BEIER: Ja, eine sadomasochistische Phantasie. Wobei die antiken Schöpfungsmythen auch schon sadomasochistisch anmuten. Mutter Erde, die mit dem Himmel schläft, die Titanen empfängt, die der Vater in ihren Leib zurückstößt, sie nicht ans Tageslicht kommen lassen will; Mutter Erde, die sich daraufhin mit ihrem Sohn verbündet, der den Vater entmannt – das sind ja keine harmlosen Geschichten, die Jelinek übrigens auch »Im Bus« kurz aufscheinen lässt.
K.WEST: Sehen Sie auch, dass darin noch eine religiöse Dimension enthalten ist, in der quasi ein elftes Gebot aufgestellt wird: Du sollst der Erde nicht Gewalt antun?
BEIER: Wie es Jelinek mit der Religion hält, weiß ich nicht. Aber solch ein Gebot ist hier Thema, auch ein zentrales Thema von »Das Werk«. Der faustische Mensch, der sich über die Natur erhebt, sie zu beherrschen sucht, und die Natur, die sich rächt, in den Alpen durch Wintereinbrüche, Lawinen, Steinschläge, Überschwemmungen. Kaprun ist, technologisch gesehen, auch eine großartige Leistung, zum Beispiel der Ingenieure. Wenn man will, spielt Jelinek die Bewunderung Spenglers für den faustischen Menschen gegen Heideggers Technologieskepsis aus. Ich finde den Vorschlag des französischen Philosophen Michel Serres großartig, der mit Blick auf die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko vorschlug, die Natur als Ankläger vor dem Internationalen Gerichtshof zuzulassen. Verbrechen gegen die Natur müssten genauso geahndet werden wie Kriegsverbrechen, also Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
»Das Werk / Im Bus / Ein Sturz«: Uraufführung am Schauspiel Köln am 29.10.2010; Vorstellungen: 30. und 31.10.2010. www.schauspielkoeln.de