Eine Gestalt wie Yukio Mishima lässt sich in der westlichen Literatur nicht finden. Schon deshalb nicht, weil der Antagonismus von Geist und Tat, der so häufig das unglückliche Bewusstsein europäischer Autoren prägt, bei ihm sich aufhebt und zur »Ethik der Tat« wird, wie es im Ehrenkodex der Samurai heißt. Mishima war ein Radikaler im politischen Sinn und in den Revolten des Herzens: reaktionär und avantgardistisch, nationalistisch und kosmopolitisch, beeinflusst von der europäischen Dekadenz – Oscar Wilde, Baudelaire, Lautréamont, D’Annunzio und dem frühen Thomas Mann – wie von Japans Tradition (insbesondere Kabuki und Nō), war ein von Leibesertüchtigung besessener Athlet, Schauspieler, Aktivist, Krieger und Ästhet.
Aber in Schönheit! Die größten Versuchungen, Aberrationen und Selbstzerfleischungen, Lustbarkeiten und Grausamkeiten haben zu geschehen unter der reinen und reinigenden Kraft apollinischen Lichts.
Mit »Die Seidentrommel« holen die Ruhrfestspiele nicht nur geografisch weit aus, indem sie die französische Festival-Koproduktion einladen. Auf dem im 14. Jahrhundert begründeten, sich divers entwickelnden und streng formalisierten Nō-Theater, das freilich wie die griechische Tragödie Furcht und Mitleid erweckt, basiert Mishimas moderne Adaption. Den Text für die Inszenierung hat Jean-Claude Carrière angepasst. Die Geschichte eines alten Gärtners und einer jungen Prinzessin folgt dem Schuld- und Sündenbewusstsein der Frau vom Ursprung des Traum(a)-Geschehens bis zur Befreiung aus dem psychischen Konflikt. Auslöser und Reflektor ist in beider Beziehung in einem komplexen Wechselspiel von Verführung. Dass der 87-jährige Yoshi Oida, berühmt geworden auch durch seine Arbeit mit Peter Brook und einst ein Freund Mishimas, in dem Duett neben Kaori Ito auftritt, ist allein schon eine Sensation. Mishimas »Vision der Leere« (so Marguerite Yourcenar) wird mit dem abstrakten Bühnenraum, dem Schweigen und Sprechen der Körper und dem Rhythmus der Musik Verbindungen eingehen. Dass der Körper denkt, bevor er diese Funktion an das Gehirn weitergibt, werden wir zu ‚spüren’ bekommen.
Die Faszination, die die Person Mishima, 1925 als Hiraoka Kimitake in die Oberschicht geboren und nahezu aristokratisch erzogen, vielleicht mehr noch als sein immenses Werk – der Romanzyklus »Das Meer der Fruchtbarkeit«, Prosa und Lyrik, Drehbücher, Libretti, Dramen – ausübt, liegt in ihrem Ambivalenten. Mishima ist uns nicht ganz geheuer. Ist es auch Japan nicht, obgleich dort zu seinen Ehren Gedichte verfasst, Preise vergeben und Denkmale errichtet werden. Seine von spirituellen Elementen durchspukte Philosophie beschrieb er als »kosmischen Nihilismus«.
Gebannt schauen wir auf sein schillerndes Leben und rituelles Sterben, das 1970 öffentlich als Suizid stattfand, umgeben von Getreuen seiner Leibstandarte. Der 45-Jährige »Magnolienkaiser« (Hans Eppendorfer), den David Bowie gemalt und das Porträt bei sich zuhause hängen hatte, beging Seppuko, das heißt: Er entleibte sich zweifach, indem er sich mit eigener Hand erstach und parallel köpfen ließ. Dem vorausgegangen war ein zum Scheitern verurteilter Putschversuch, mit dem er die gottgleiche Macht des Kaisers neu installieren und Japan zu sich selbst zurückführen wollte, nachdem es verwestlicht und von linken Ideologien beschädigt worden sei. 1968 wurde Mishima der Nobelpreis für Literatur zu-, doch sogleich, politisch motiviert, wieder abgesprochen.
Mishima schuf ein Sittenbild Japans aus obsessiver Subjektivität, in wechselnden Masken und Ich-Schablonen, darin sich homoerotische Selbstbespiegelung, Körperkult, Liebesschmerz und Todessehnsucht, mythologische Referenzen und politische Reizimpulse faszinierend mischen.
2. bis 5. Mai 2021, Ruhrfestspielhaus, Recklinghausen, www.ruhrfestspiele.de