Thomas Mann breitet in seinem Roman die Welt von Gestern, also die spätbürgerliche Gesellschaft der Schlafwandler vor dem Ersten Weltkrieg, aus, bis das »Weihefest des Todes« beginnt – und es wirft sich von dort bereits der Schatten auf das Folgende des zivilisatorischen Abgrunds. Bei Timm Kröger befinden wir uns in den frühen sechziger Jahren, gut eineinhalb Jahrzehnte nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Noch hat die junge deutsche Demokratie zu kämpfen mit den Erblasten (wobei der von einem Hotel-Boy vorgetragene Hitler-Gruß vergleichsweise harmlos ist), denen sie sich zum Teil noch gar nicht stellt, noch hat sie zu leben auch mit dem Aderlass der jüdischen Kultur, deren Repräsentanten ermordet wurden oder ins Exil gezwungen, darunter viele bedeutende Wissenschaftler*innen, Künstler*innen – und Filmemacher.
Der »Zauberberg«-Besucher Hans Castorp heißt hier Johannes Leinert. Und die Patienten des internationalen Sanatoriums Berghof in Davos sind hier Physiker, darunter ein iranischer Quantenmechaniker, die sich in einem schweizerischen Erholungs- und Sporthotel zu einem Kongress treffen. Es ist Winter, sie laufen Ski, liegen auf der Sonnenterrasse, studieren und diskutieren »Die Theorie von Allem«.
Wie jeder Epochen- und Zeitroman, wie überhaupt jeder Bildungsroman von Rang, handelt auch dieser elegante und stilistisch extravagante Schwarzweißfilm – gestellt in die majestätische Kulisse der Gebirgswelt, die der voluminöse Soundtrack zusätzlich erhöht – davon, was die Welt im Innersten zusammenhält. Handelt also von Leben und Tod, Hoffnung und Verlust, Erwartung und Erkenntnis und in Timm Krögers besonderem Fall auch von Physik – und vom Kino selbst.
Paranoia und Geisterstunde
Denn »Die Theorie von Allem« spielt selbstbewusst, klug und lustvoll mit dem eigenen Medium und dessen in Deutschland mit der Zäsur 1933 gebrochener Geschichte. Wir denken an exquisite Filme von Fritz Lang, Peter Lorre, Wolfgang Staudte, Billy Wilder, ja, wohl auch an Orson Welles und Charles Laughton, jedenfalls an den Film Noir, der wesentlich miterfunden wurde von deutsch-jüdischen Emigranten in Hollywood. Kröger selbst bestimmt als Grundthema seines Films die Paranoia, auch dies ein Motiv im Film Noir und Symptom einer Welt im Chaos, des Tohuwabohu und Schwindel erzeugender Ungewissheit. »Die Theorie von Allem« ist mehr als nur ein historischer Stimmungsbericht.
Somit beschwört Kröger auch eine Geisterstunde. Denn alle Theorie ist nicht unbedingt grau, sondern kann Zauber entfesseln, ob schwarze Magie und Mystery oder die dazu gegensätzlich aufgeweckt helle und erhellende Kunst.
Drei Männer im Schnee, so könnte man salopp mit einem Titel von Erich Kästner und seiner putzmunteren Verfilmung durch den Routinier Kurt Hoffmann von 1955 sagen, sind die prägnanten Figuren der mit Thriller-Anteilen zugespitzten Geschichte. Drei Originale und Sonderlinge auch: Johannes Leinert, der junge, begabte, leicht verpeilte, an seiner Promotion arbeitende Forscher (Jan Bülow), dem seine Theorie buchstäblich im Traum zufliegt, so dass er sein Erweckungserlebnis hat. Dann sein Doktorvater Dr. Julius Strathen (Hanns Zischler) und der eigensinnige, parallel zur akademischen Zunft laufende Professor Blumberg, den Gottfried Breitfuß hinreißend als skurrilen Charaktertypen skizziert. Neben den in schönen Nebenrollen auftretenden David Bennent als Ermittler und Imogen Kogge fehlt die doppeldeutig leuchtende schöne Unbekannte nicht: Olivia Roos als Karin Hönig, die als Barpianistin auftritt und doch eine andere, ins Frühe zurückreichende Biografie mit sich trägt.
Der 1985 geborene Kröger – Absolvent der Ludwigsburger Filmakademie, Regisseur, Autor und Kameramann – ist in seinen Filmgeschichten ein Suchender und Fragensteller, bohrend und hartnäckig. Ein Forscher, der für den deutschen Film der Gegenwart ein kaum betretenes und kaum beherrschbares Terrain betritt, ausmisst – und sich erobert.
»Die Theorie von Allem«, Regie: Timm Kröger, Deutschland / Österreich / Schweiz 2023, 118 Min., Start: 26. Oktober 2023