TEXT: GUIDO FISCHER
Am 18. November 1991 entstand eines der prominentesten Klassenfotos der jüngeren Musikgeschichte. Auf dem Podium des Mozart-Saals im Wiener Konzerthaus standen einträchtig beieinander: Alfred Schnittke und Pierre Boulez, Arvo Pärt und Hans Zender, Beat Furrer, Wolfgang Rihm, Friedrich Cerha und Luciano Berio. Ein edler Reigen unterschiedlichster Neutöner, die den 90. Geburtstag eines renommierten Notenverlags feierten. Aus dem Kreis ragte der mächtige Lockenkopf eines eher kleinen Mannes hervor, der im Gegensatz zu den anderen offiziell keine Note zu Papier gebracht hat. Doch Irvine Arditti gehört einfach dazu. Die meisten der anwesenden Komponisten wissen genau, was sie an ihm und seinem Quartett haben. Wer, von Berio bis Rihm, ein Streichquartett schreibt, denkt an das Arditti Quartet, an seine gestalterisch schier unbegrenzten Möglichkeiten und die Abenteuerlust, mit der die Musiker Neuland auf dem Streichquartett-Kontinent erkunden.
Galt der englische Vierer um Irvine Arditti schon damals als Uraufführungs-Weltmeister, hat man diesen Rang seither verteidigt. Nahezu überall, wo die Gruppe in diesem Jahr etwa gastierte, brachte sie eine Novität zu Gehör. In Paris spielte sie als Premiere Rihms 13. Streichquartett. Bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik wurden Stücke des Dänen Hans Abrahamsen und der Engländerin Naomi Pinnock aus der Taufe gehoben. Beim »Steirischen Herbst« in Graz stand die Uraufführung eines Quartetts von Rebecca Saunders auf dem Programm.
Seit der Gründung 1974 hat das Arditti Quartet an die 400 Werke namhafter Komponisten zum Leben erweckt. Parallel pflegt man ein Repertoire mit Hunderten von Quartetten, die im 20. Jahrhundert entstanden, angefangen bei der Zweiten Wiener Schule um Arnold Schönberg über John Cage bis Luigi Nonos epochalem Quartett »Fragmente – Stille, An Diotima«. Allein dieses Stück habe er knapp hundert Mal gespielt, sagt Irvine Arditti im Gespräch: »Ich kenne es besser als meinen Handrücken«.
FÜR STOCKHAUSEN IN DIE LUFT GEHEN
Die Musik der Gegenwart zu fördern und dabei ihren Traditionszusammenhang nicht zu vergessen, war und ist der Leitgedanke des Arditti Quartetts. Entscheidende Impulse erhielt Irvine Arditti durch die Begegnung mit dem legendären LaSalle Quartett. Sein grundlegendes Interesse an der zeitgenössischen Musik war da aber schon geweckt, auch dank der Reisen des Heranwachsenden nach Darmstadt, wo sich die Crème der Neuen Musik traf. Dort hörte er erstmals Karlheinz Stockhausen und György Ligeti und mit ihnen zwei Komponisten, die für die Geschichte des Arditti Quartets wichtig werden sollten. Kaum hatte Arditti noch während des Studiums am Londoner College of Music sein rein auf Neue Musik spezialisiertes Streichquartett gegründet, wurde eines der ersten Konzerte mit Werken von Ligeti von der BBC live übertragen. Höhenflüge. 1995 hob das Ensemble dann tatsächlich ab, als es für Stockhausens Helikopter-Streichquartett, das der Komponist nach langem Bitten um ein eigenes Stück mit einer Art »Anti-Kammer-Musik« erfüllte hatte, in die Luft ging. Die vier Musiker wurden auf vier Hubschrauber verteilt und mussten ohne Hörkontakt ihren Part spielen: »eine große Herausforderung, aber auch ein großer Spaß«, erinnert sich der Quartett-Chef.
Aber auch wenn sie auf dem Boden bleiben, musizieren die Ardittis mit Bravour. Für den Spiritus Rector und Namenspatron gibt es nichts, was sich nicht erarbeiten ließe. Obwohl es im Lauf der Zeit mehrmals zu Umbesetzungen kam, hat sich am Probenprozess nichts verändert. Zunächst studiert jeder Musiker die Partitur in Klausur, bevor man zusammenkommt. Je nach Schwierigkeitsgrad hat man das Werk nach einem Tag oder erst nach einer Woche verinnerlicht. Angesichts des Repertoire-ABC’s von Thomas Adès und Harrison Birtwistle bis Iannis Xenakis und John sind ihnen alle spieltechnischen Kniffe und Tücken geläufig. Dennoch gibt es Momente, die die Anwesenheit des Komponisten verlangen.
VOM KRATZEN UND SCHABEN
Besonders gilt das für die Quartette der unbeirrbaren Avantgardisten Helmut Lachenmann und Brian Ferneyhough, die ihre meisten Werke für das Arditti Quartet geschrieben haben. Lachenmann erfindet immer neue Klangerzeugungs-Techniken – vom Kratzen und Schaben bis zum Reiben, Pressen und Quetschen. Nicht weniger anstrengend ist Ferneyhoughs mikrotonale sowie rhythmisch verwinkelte Komplexität. 2010 wurde das 6. Streichquartett des Engländers bei den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführt, das den Bogen von scheinbaren Action-Painting-Partikeln bis zu tumulthaften Ausbrüchen schlägt.
Nun lassen sich die Ardittis erneut auf dieses streng durchkonstruierte Tempo ein. Für das Konzert beim Essener NOW!-Festival, das unter dem Motto »zurücknachvorn« steht, haben sie drei Hochmassive der jüngeren und jüngsten Quartett-Literatur ausgewählt. Dazu gehören Ferneyhough sowie Lachenmanns 3. Streichquartett »Grido«. Zu Beginn erklingt mit »Fragmente – Stille, An Diotima« vom Lachenmann-Lehrer Nono eine Reise in zarte, sich am Rand der Stille bewegende Klangwelten. Ein anspruchsvolleres Programm lässt sich kaum denken.
4. November 2012, Philharmonie Essen. www.philharmonie-essen.de