TEXT: GUIDO FISCHER
»Die Stunde naht, ein Lichtstrahl senkt sich auf das heilige Werk – die Hülle fällt.« In Wagners »Parsifal« hat Amfortas so lange wie möglich die Enthüllung des Grals herausgezögert. Anfang dieses Jahres konnte es hingegen die Wagner-Gemeinde kaum erwarten, bis die Hüllen für einen neuen konzertanten »Parsifal« fielen. Am 20. Januar war es im Dortmunder Konzerthaus so weit. Für die erste moderne Aufführungauf historischen Instrumenten hatte Thomas Hengelbrock den zu Klang-Fett neigenden »Parsifal« einer radikalen Schlankheitskur unterzogen. Dennoch gab es in den vier Stunden keineswegs Magerkost, sondern ungemein Delikates im Detail.
Für die internationale Wagner-Familie wurde das Bühnenweihfestspiel zu einer auch aufführungspraktisch kühnen Offenbarung. Während Hengelbrock seit dieser Sternstunde gewiss endgültig weiß, dass er Bayreuth nicht mehr braucht, um Wagner erfolgreich gegen den Strich zu dirigieren. 2011 hatte er dort sein heiß diskutiertes Debüt mit dem »Tannhäuser« gegeben. Bereits im Jahr darauf kündigte er angesichts der für ihn unzumutbaren Arbeitsbedingungen die weitere Zusammenarbeit auf.
Mit Hengelbrock hatte man den ersten Dirigenten auf den grünen Hügel verpflichtet, der als Verfechter der Originalklang-Bewegung gilt. Ob er das Engagement annehmen sollte, stand für ihn nie in Frage. Zumal er mit dem klassisch-romantischen Repertoire aufgewachsen ist. Unter den Dirigenten, die sich wie Nikolaus Harnoncourt oder John Eliot Gardiner von der Alten Musik im Repertoire nach vorn gearbeitet haben, scheint gerade er zum Allrounder geboren zu sein.
Die großen Barock-Chorwerke von Monteverdi bis Bach hat der 54-Jährige ebenso aufgeführt wie Zeitgenössisches von György Ligeti oder Erkki-Sven Tüür. An der Wiener Volksoper dirigierte Hengelbrock als Musikdirektor Bernsteins »West Side Story« und in Baden-Baden Bellinis »La Sonnambula« mit Cecilia Bartoli. In seinen schon legendären inszenierten Themen-Konzerten standen einmal die »Metamorphosen der Melancholie« im Mittelpunkt. Oder er collagierte Schuberts »Winterreise« mit Songs des Engländers Peter Maxwell Davies. »Ich kann und möchte mich nicht festlegen«, lautet seine Devise. Der unkonventionelle Originalklangforscher findet, dass er aus der Beschäftigung mit den unterschiedlichsten Werken einen noch schärferen Blick für das Besondere und Einzigartige bekommen habe.
Geboren wurde Hengelbrock in Wilhelmshaven. Seine künstlerischen Wurzeln liegen in Freiburg. Dort studierte er die Barockgeige und wurde schnell Assistent von Mauricio Kagel und Heinz Holliger. Obwohl er in dem klassischen Dirigenten Antal Dórati einen prominenten Mentor hatte, konzentrierte er sich zunächst auf die Alte Musik und gehörte zu den Mitbegründern des Freiburger Barockorchesters. Zu Beginn der 1990er Jahre formierte er aus internationalen Spitzenmusikern erst den Balthasar-Neumann-Chor und 1995 das gleichnamige Instrumental-Ensemble. Bis heute widmet er sich mit ihnen auf Originalinstrumenten der jeweiligen Epoche der Bandbreite von Barock über Mozart bis Verdi – und eben Wagner.
Damals reihte man sich mit Darmsaiten und ventillosen Trompeten in die überfällige Gegenbewegung zum traditionellen Mainstream-Klang ein. Selbst in der Organisationsstruktur unterschieden sich die freien Alte Musik-Ensembles von den Hierarchien großer Orchester. Vieles wurde basisdemokratisch entschieden. Diese Zeit war für den Teamplayer Hengelbrock prägend. Dennoch fühlte sich der Hobby-Segler zum Steuermann berufen, da bei ständigen Gruppendiskussionen über einen bestimmten Takt oder eine Phrase für ihn das künstlerische Resultat schon mal unterging. Zu einem Dirigenten alten Schlages, der mit despotischer Geste und Miene Kommandos gibt, ist Hengelbrock aber nicht mutiert. Er will nach intensiven Quellen- und Notenstudien die Musiker für seine Forschungsergebnisse und Ideen begeistern. Dank der Mischung aus Wissen, Autorität und Offenherzigkeit gastiert er auch bei Orchestern, die lange unter dem Regiment von »alten Knochen« (Hengelbrock) standen. Dazu zählen die einst von Sergiu Celibidache ins strenge Gebet genommenen Münchner Philharmoniker, mit denen Hengelbrock auf zwei CD-Einspielungen bewies, wie pulsierend, klar und doch beseelt im 21. Jahrhundert Schubert und Tschaikowsky klingen können.
Nach Jahren als vielgebuchter Freier ist Hengelbrock seit 2011 in Festanstellung. Nach seinem Ausflug in die oberfränkische Wagner-Hauptstadt trat er in Hamburg den Posten als Chefdirigent des NDR Sinfonieorchesters und damit die Nachfolge von Christoph von Dohnányi an. Schon mit dem Titel des Antrittskonzerts, »Anything goes«, kündigte sich frischer Wind an, der wehen aus der Richtung von Purcell oder Schumann oder Jörg Widmann. Jüngst präsentierte er eine neue Oper des Briten Simon Wills.
Solange er und das Orchester auf die Fertigstellung der Elbphilharmonie warten müssen, bespielen sie die Hamburger Laeiszhalle oder nutzen die Zeit für Auswärtstermine. Zweimal gastieren sie hierzulande mit Mahlers 5. Sinfonie. Altbekannt sind auch die Konzerte von Mozart und Liszt, bei denen die Violinistin Arabella Steinbacher (Bielefeld) und Pianist Jean-Yves Thibaudet (Wuppertal) den Solo-Part übernehmen. Aber selbst diese Klassik-Hits werden sich auf modernen Instrumenten nicht wie Konfektion anhören. Thomas Hengelbrock gelingt es, die Musikgeschichte von Nebelschleiern zu befreien und den offenen Klang-Ozean zu gewinnen.
12. März 2013, Rudolf-Oetker-Halle, Bielefeld. 14. März, Historische Stadthalle,Wuppertal.