TEXT: ANDREJ KLAHN
Am 20. Juni 1974 ist der Himmel diesig über der kleinen Stadt Easton, Pennsylvania, gut 100 Kilometer östlich von New York. Als weiße, strukturlose Fläche wird er sich später auf dem Foto abzeichnen, das Stephen Shore an diesem Sommermorgen macht. Was darauf noch zu sehen ist, wirft kaum Schatten: eine Straßenkreuzung, an deren einer Ecke ein dreistöckiges, grau-braunes Haus mit tief hängenden dunkelgrünen Markisen steht. Durch eines der Fenster im Erdgeschoss schaut ein kleiner Junge nach draußen, unter seinem Kopf ist auf dem Glas der Schrifttzug »Dr. Harry Ungerleider Dentist« angebracht. Hinter dem Haus fällt das Terrain ab, so dass die Straße den Blick frei gibt auf einen üppig begrünten, vom Morgendunst noch leicht verschleierten Hang in der Ferne. Als einziges Auto parkt ein roter VW-Bus an der Kreuzung. Und sonst? Das war’s. Wenn das kein unspektakuläres Bild ist, welches dann?
Doch in diese aufgeräumte Aufnahme, die Stephen Shore an der menschenleeren Ecke Church Street / Second Street macht, haben sich Geschichten eingelagert, die das Düsseldorfer NRW-Forum mit der von Cristoph Schaden kuratierten Ausstellung »Der Rote Bulli, Stephen Shore und die Neue Düsseldorfer Fotografie« zur Fotografiehistorie entfalten will. Da wäre zunächst einmal die Entstehung des Bildes, die eine entscheidende Zäsur in der Arbeit eines gerade mal 26 Jahre alten Fotografen markiert, der in seiner Heimat als »Wunderkind« gehandelt wird. Ein Wunderkind, dem es an Talent genauso wenig wie an Mut und Selbstbewusstsein zu fehlen scheint: Als Vierzähnjähriger bittet der 1947 geborene Shore Edward Steichen, eine der Überfiguren der Fotografiegeschichte, um einen Termin, um ihm mal ein paar Arbeiten zu zeigen. Steichen ist zu dieser Zeit Direktor der Fotografieabteilung des Museum of Modern Art in New York. Und als solcher entscheidet er sich dann auch, drei Werke Shores für das Museum anzukaufen – zu je 15 Dollar. So wie der berühmte Alfred Stieglitz dem ambitionierten Teenager Steichen in den 1890er Jahren drei Bilder für ein Taschengeld abgekauft haben soll.
Das MoMA sollte Shore dann 1976 als zweitem lebenden Fotografen überhaupt eine Einzelausstellung ausrichten. Zischen dem Ankauf und dieser Schau assistiert Shore Andy Warhol, dokumentiert das Leben in der Factory, sensibilisiert sich dort für die bunten Ober-flächen und Trivialitäten des Pop. Schließlich absolviert er noch ein Lehrjahr bei Minor White, einem der einflussreichsten Fotografielehrer der USA.
Shore hat also reichlich Referenzen im Gepäck, als er sich Anfang der 1970er Jahre aufmacht, die Welt außerhalb von Manhattan mit der Kamera zu entdecken. Er reist durch die Staaten und fotografiert das »öde Niemandsland« und dessen Bewohner, setzt die amerikanische Provinz bunt und bilderhungrig in Szene. »American Surfaces« heißt diese Serie kleinformatiger, bewusst billig entwickelter Bilder, Schnappschüsse, auf denen das ordinäre Leben zu sehen ist, für das sich die noch immer um Anerkennung als Kunst ringende Schwarzweißfotografie zu schade ist. Doch diese kleinformatige Ästhetik scheint 1973 für Shore ausgereizt. Er steigt auf die Großbildkamera um und wird zu einem der prägenden Fotografen des New Color. Am besagten 20. Juni 1974 ist er erstmals mit einem 8 x 10-Zoll-Apparat unterwegs. Shore fertigt ein Porträt an – und eben dieses Bild mit dem roten Bulli in Easton, Pennsylvania. Der Rückblick vermag heute in den Sekunden, die es für die Belichtung brauchte, einen wichtigen Moment der Fotografiegeschichte zu erkennen.
Das wäre die eine Geschichte, die »Church Street and Second Street, Easton, Pennsylvania, June 20« erzählt, ohne sie zu zeigen. In einer anderen spielt ein roter Bulli eine keineswegs geringe Rolle. Auf Bildern ist er nicht zu sehen, doch er hat sie möglich gemacht. Jahrzehntelang waren Bernd und Hilla Becher mit einem solchen Kleintransporter auf Achse, um überkommene Industriearchitekturen mittels der Plattenkamera in anonyme Skulpturen zu verwandeln und sie dem Verschwinden zu entreißen. Noch heute soll ein roter Bulli vor dem Haus Hilla Bechers in Kaiserswerth stehen. Shores »Church Street and Second Street, Easton, Pennsylvania, June 20« sehen die Bechers erstmals 1975 auf der legendären Gruppenausstellung »New Topographics. Photographs of a Man-altered Landscape«, bei der sie als einzige europäische Fotografen vertreten sind. 1980 erwerben sie einen Abzug von Shores Bild – und zuckeln weiterhin mit einem roten Bulli durch das Land.
Das ist eine schöne Geschichte. Und der rote Bulli ein starkes Symbol für den Einfluss, den die Arbeiten Shores, vermittelt durch Hilla und Bernd Becher, auf viele Absolventen der Becher-Klasse an der Kunstakademie hatten und haben. Dafür hat das NRW Forum knapp 400 Bilder versammelt – von Stephen Shore, Hilla und Bernd Becher und 21 Studenten der Becher-Klasse, darunter Andreas Gursky, Candida Höfer, Thomas Ruff, Thomas Struth, Axel Hütte, Laurenz Berges, Tata Ronkholz oder etwa Boris Becker.
Ein roter Bulli allein reicht natürlich nicht aus, um eine transatlantische Inspirationsgeschichte zu erzählen. Doch Stephen Shore und die Bechers verbindet ein intensives wechselseitiges Interesse an der Arbeit der jeweils Anderen – Vermittlungstätigkeit inklusive. Eine kleine Serie von Shore-Originalabzügen hing im Haus von Hilla und Bernd Becher, in dem ihre Studenten immer wieder zu Gast waren. Einen »gewissen Einfluss«, so hat Bernd Becher 2002 vermutet, haben diese Bilder wohl auf sie gehabt. Und die Ausstellung ist so klug, das Unbestimmte dieser Aussage auszubalancieren und zugleich ernst zu nehmen.
Bernd Becher habe die Studenten immer wieder auf das Werk Shores verwiesen. Auch deshalb, weil er selbst von der Farbfotografie wenig verstand. So erinnerte sich Hilla Becher in der Ausstellung, ohne der Annahme, die dieser zugrunde liegt, damit an Plausibilität zu nehmen. Immerhin sollte Bernd Becher, seit 1976 Professor für Fotografie an der Düsseldorfer Kunstakademie, wesentlich dazu beitragen, dass die Düsseldorfer Kunsthalle Shore 1977 mit der bis dahin umfassendsten Ausstellung in Europa ehrte. Darunter auch Bilder seines wirkungsmächtigen Langzeitprojektes »Uncommon Places«, präzise Aufnahmen aus dem trostlos zersiedelten Amerika, Fotografien von Tankstellen, Parkplätzen und ähnlich tristen Orten des American Way of Life. Formbewusst und doch unmittelbar, auf fast beiläufige Weise, wodurch die »Uncommon Places« eine Selbstverständlichkeit bekommen, die sie zur Zeit ihrer Entstehung nicht hatten und die auch heute noch im NRW Forum einen überwältigenden Eindruck hinterlassen.
Das waren Werke, die sich in den 1970ern als Kunst gegen die quietschbunten Bilder der Werbung zu behaupten hatten. Während die New Color Photography diesseits des Atlantiks all denen argumentative Hilfe war, die sich mit dem vermeintlich Banalen und den Erscheinungsformen der Konsumwelt auseinandersetzen wollten – wobei die Düsseldorfer, wohl auch dem Becherschen Gesetz der Serie geschuldet, dabei immer Halt suchten an konzeptionellen Überbauten. Bei Claus Goedicke etwa, der von 1989 bis 1955 bei Bernd und Hilla Becher studiert hat, nimmt diese Hinwendung die Form von kapitalistischen Stillleben an: sauber in Szene gesetzte leere Verpackungen von einschlägigen Markenartikeln vor zweifarbigem Hintergrund.
Vielfältige Bezüge und Verbindungen lassen sich stiften zwischen Stephen Shore und der »Neuen Düsseldorfer Fotografie«, motivische, formale, biografische, zwingende wie mutmaßliche. Sei es, dass Thomas Struth seine Aufnahmen von menschenleeren Straßen und Plätzen »Unconscious Places« nennt, worin durchaus eine Anspielung auf Shores »Uncommon Places« gesehen werden darf. Wobei Struth seine schwarzweiß belichtete Stadtlandschaft Ende der 1970er ja vor allem auf die (Architektur-)Geschichte der Orte hin öffnet. Sei es, dass Wendelin Bottländer, der Anfang der 1980er zwei Jahre in der Becher-Klasse studiert, sich für seine Aufnahmen entlang der B224 aus einem uramerikanischen Motivreservoir bedient und so das Ruhrgebiet zum amerikanischen Hinterland werden lässt.
Unmittelbar scheint der Einfluss Shores und der »New Color Photography« in Boris Beckers Mitte der 1990er entstandenen Aufnahmen von US-amerikanischen Motels, von von Billboards gesäumten Straßen und Plätzen ansichtig zu werden. Doch diese Bilder sind derart archetypisch, dass man sie schwerlich auf ein einziges Vorbild wird zurückführen können. Allerdings ist die Ausstellung elastisch genug konzipiert, als dass der Zufall in der Einfluss-Geschichte vom roten Bulli nicht auch zu seinem Recht kommen könnte.
»Der Rote Bulli. Stephen Shore und die Neue Düsseldorfer Fotografie«. NRW-Forum Düsseldorf. Bis zum 16. Januar 2011. www.nrw-forum.deDer von Werner Lippert und Christoph Schaden herausgegebene Katalog zur Ausstellung ist unbedingt lesenswert und kostet 33 Euro.