Mit der Grenze des guten Geschmacks ist das so eine Sache. Kein Mensch weiß genau, wo sie verläuft, aber jeder erkennt in Sekundenschnelle, wenn sie erreicht ist. Ähnlich der berühmten »Gürtellinie«, bei der auch unklar ist, ob sie sich in Bauchnabelhöhe oder an den Knien befindet. Auf die Kultur und das Design bezogen lässt sich sagen, dass die Grenze des guten Geschmacks die Welt in Kunst und Kitsch unterteilt, aber nicht als stacheldrahtbewehrte Mauer, sondern als grüne Grenze, die sich leicht in beide Richtungen überqueren lässt.
Kitsch ist immer Sache der Definition und des persönlichen Geschmacks. Kitschig, das sind immer die anderen, nie man selbst. Und wenn, wird man es nicht zugeben und das scheinbar Geschmacksferne und Sentimentale im privaten Hinterzimmer oder in unbeobachteten Momenten genießen. »Gib es zu, du warst im Nana Mouskouri-Konzert / ich war auch da und du hast geweint« – so hat Funny van Dannen das Prinzip schon früh besungen. Adorno hingegen erkannte im Kitsch das »dümmlich Tröstende«. Kitsch lebt, neben dem Emotionalen, von seiner Übertreibung und Überhöhung. Ein Gartenzwerg im Beet kann noch ganz putzig sein, aber eine Hundertschaft zeugt weniger von Geschmack, als von hypertrophem Dekorationswillen. Dass Ironiker der 90er Jahre sich von Küchenmessern erdolchte Gartenzwerge ins Beet stellten, machte es nicht besser. Kitsch mit Augenzwinkern ist noch anstrengender als das Original.
Aufgeblasener Tinnef wie die »größte Kuckucksuhr der Welt« in Wiesbaden oder das Bad Dürkheimer Riesenfass, in dem ein Wein-Restaurant untergebracht ist, haben nichts mehr mit Tradition zu tun, sondern sind schlicht Dekorationskitsch – die Überbietung des Gemütlichen. Sonnenuntergänge werden höchst verschieden wahrgenommen, als Naturschönheit oder als bräsige Fototapete. Sonnenuntergänge sind übrigens nur so lange kitschig, bis daraus Kampfhubschrauber walkürenumtost auf den Betrachter zufliegen und – im Fall von Coppolas »Apokalypse Now« – das Kitschgefühl bis auf weiteres versauen.
Kitsch sei das Echo der Kunst, schreibt Tucholsky. Da kannte er die Museumshops noch nicht. Kein Künstler, der nicht davor sicher sein kann, dass sein Werk zielgruppengerecht zurecht gekitscht wird. Regenschirme mit Magrittes herabregnenden Melonenmännern ist noch das harmloseste, richtig schlimm wird es bei Mondrians konstruktivistischen Mustern. Schreibblöcke, Armbanduhren, Bettwäsche, Textilien, Turnschuhe werden entsprechend bedruckt und unters Volk gebracht. Yves Saint Laurent entwarf 1965 Cocktailkleider im Mondrian-Design, und das Kölner Museum für Angewandte Kunst zeigte 2010 mit der Ausstellung »all over mondrian. kunst und konsum« die geballte Ladung Konstruktivmuskitsch inklusive der Shampoo-Flaschen von L’Oréal, die mit dem Gitterraster und den primärfarbenen Quadraten bedruckt waren. Im Café des San Francisco Museum of Modern Art wird sogar »Mondrian Cake« serviert – ein normaler Kuchen in Kastenform, der nach dem Anschneiden das berühmte Muster offenbart; nachgestellt mit Lebensmittelfarben. Inwieweit hier die Grenze des guten Geschmacks erreicht wird, wissen wir erst nach dem Essen.