TEXT: ANDREAS WILINK
Der Originaltitel trifft es eher, Abdellatif Kechiche erzählt vom »Leben der Adèle«, das auch nach drei Stunden nicht zum Abschluss gebracht ist, sondern nur etappenweise geschafft. Weshalb der Film von »Kapitel 1 & 2« spricht. »Blau ist eine warme Farbe« (auf Deutsch) hingegen poetisiert, mystifiziert und banalisiert, weil sich die Feststellung auch auf die blau gefärbten Haare von Emma beziehen ließe, Adèles große Liebe.
Aber der Reihe nach. Adèle ist 17, geht aufs Gymnasium, wo die Schülerinnen kichernd abchecken, wer der Süßere ist, Vincent oder Hugo. Sie aber träumt von Mädchen, versucht es zwar mit einem Jungen und tauscht Küsse mit einer Klassenkameradin, die aber nur aus einer momentanen Laune heraus dem gleichgeschlechtlichen Reiz nachgibt. Adèle bleibt diejenige, die ihre konfusen Gefühle nicht versteht und sich darüber zergrübelt.
Der Prolog, passend begleitet von Schullektüre mit dem Rokoko-Dichter Marivaux, der Prinzessin von Kleve und der sich Autonomie erstreitenden Antigone, dauert eine Stunde. Dann trifft Adèle die etwas ältere Emma (Léa Seydoux), die Kunst studiert, eigenwillig und frei ist und sich selbst gewachsen. Zaghaft lässt sich Adèle auf sie ein, aber eigentlich doch von Beginn an in schicksalhaftem Einverständnis mit ihrem Begehren, was Adèle Exarchopoulos mit ihrem großen, offenen, weichen Kindergesicht unter dem widerspenstigen Haar einfach wunderbar meistert.
Die Kamera hält ununterbrochen auf Körper, Gesichter, Münder, nicht nur beim Spaghetti- und Gyros-Essen. Derart aufdringlich, dass man sich die Diskretion eines François Ozon wünschte, der darum nicht minder tief im Ausloten emotionaler Zustände ist. Dass die Sexszenen ausgiebig und in allen Details durchgeturnt werden, ist nicht skandalös, sondern bloß langweilig. »Die Liebe hat kein Geschlecht«, sagt hier ein alternder Schwuler einmal. Stimmt. Aber jedes Liebesspiel ist öde zu beobachten, wenn man selbst nicht beteiligt ist. Interessanter, als mit der erotischen Prozedur, verhält es sich mit der Spannung, die aus Klassen-Verhältnissen und der kulturellen Verschiedenheit der beiden erwächst, wenngleich der Kontrast sich sehr schematisch aufbaut.
Adèle stammt aus kleinbürgerlichem Elternhaus, Emma aus akademischem Haushalt, ihr Freunde sind Künstler, sie doziert über Sartre, tauscht sich über Klimt und Schiele aus. Bei den einen gibt es Pasta Bolognese, bei den anderen werden Austern geschlürft, die symbolisch überdeutlich zum Gefäß weiblicher Sexualität stilisiert werden. Adèle, mittlerweile Grundschullehrerin, kann nicht mithalten und fühlt sich als Emmas »Muse« unakzeptiert. Die Liebe scheitert am sozialen Kontext. Was bleibt, ist der Entwicklungsroman einer sensiblen Heldin, nicht die sexuelle Revolte in Frankreich, das mit homophoben Massenaufmärschen gegen die Gleichstellung schwuler Paare bei der Adoption irritierte. Der Cannes-Gewinn für Kechiche muss als Protestnote verstanden werden. Der Jury-Präsident hieß übrigens Steven Spielberg.
»Blau ist eine warme Farbe«; Regie: Abdellatif Kechiche; Darsteller: Adèle Exarchopoulos, Léa Seydoux, Salim Kechiouche, Mona Walravens, Jérémie Laheurte, Sandor Funtek; F 2013, 179 Min.; Start: 19. Dezember 2013.