// In der Tendenz zum filmischen Neohistorismus, zu belegen an etlichen Beispielen vom antiken »Gladiator« und Kampf um Troja bis zum Walkürenritt Stauffenbergs, sowie dem Interesse an biografischer Erinnerungs- und Bekenntnisliteratur von Hape Kerkeling bis Günter Grass, verbindet sich ein Wunsch des Publikums. Geschichtliche oder individuelle Nachstellungen mögen nur ja nicht den Kitzel des Unterhaltungswertes vernachlässigen. Macht dieser Reiz-Impuls Halt vor dem dokumentarischen Kino? Die Mischung aus »Authentizitätsbegehren und Fiktionalitätsbewusstsein« (Ernst Osterkamp) regelt sich im Genre Dok-Film zu Gunsten des ersteren quasi von allein. Das entlastet von bloß lukullischen Erwartungen, gerät aber nicht immer zum Vorteil, falls erzählte Schicksalslinien dünn und dürftig geraten und formale Ansprüche über inhaltliche Anliegen vernachlässigt werden.
Was auch beim 32. Jahrgang der Dokumentarfilmwoche Duisburg gelegentlich zu beobachten ist. Das Motto »schläft ein bild in allen dingen« lässt sich dann doppelt verstehen. Eine Bildkraft liegt verborgen und kann geborgen werden oder aber sie verdämmert angesichts der scheinbar vorrangigen Belange der Dingwelt.
Da ist dann jemand wie Harun Farocki ein Relikt: Experimentator und Seismograf mit gestalterischer Ambition und künstlerischem Instinkt für das, was es zu sagen gibt und was auszulassen ist. »Übertragung« heißt sein essayistischer Kurzfilm, der alten und neuen, religiösen, politischen und profanen Ritualzauber betrachtet. Ausgehend von dem in Washington errichteten Memorial für 50.000 US-amerikanische Tote des Vietnamkriegs, deren in Marmor gemeißelte Namen sich suchen, erfühlen und abtasten lassen von Händen, die sich im polierten Stein spiegeln, wandert Farocki durch Kulturen und Gebräuche und schaut hinter die Spiegel ins Reich der Toten. Gläubige im Vatikan, auf der Via Dolorosa und in der Grabeskirche Jerusalems berühren andächtig angebliche Reliquien von Jesus und Petrus. Touristen wagen sich – wie einst in »Ein Herz und eine Krone« Audrey Hepburn und Gregory Peck – an den Mund der Wahrheit in Rom, der im Mittelalter als Prüfstein benutzt wurde. Besucher im KZ Buchenwald wärmen sich an der auf 37 Grad temperierten, im Boden eingelassenen Gedenktafel für die Opfer der Shoah. Vielerlei Erinnerungs- und Verehrungsorte folgen. Immer aber schaffen Gesten der Berührung eine fast magische, nicht selten auch fragwürdig kultische Atmosphäre.
»Darin muss der Sinn jeder Reise liegen: Die Fremdheit der ganzen Welt berühren und uns dadurch selbst erkennen«, schrieb Muhammad Asad alias Leopold Weiss. Wir werden ihm noch begegnen.
Je weiter ein Film ins Fremde und Unbekannte vordringt, desto größer die Bereitschaft, ihm um dieser Qualität willen Bedeutung zuzusprechen. Dieses Fremde und Unbekannte muss nicht immer im Exotischen liegen. Nicht in Papua-Neuguinea (»The Moon The Sea The Mood«); nicht in Transsylvanien bei der Mühsal von Holzfällern (Georg Tiller & Claudio Pfeifer); nicht auf einer schweizerischen Alm im Kanton Uri, wo eine Bauern-Familie »Bergauf, Bergab« (Hans Haldimann) rechtschaffen, in gewissermaßen biblischer Ordnung und nach der Ganzheitsmethode im Einklang mit den Jahreszeiten lebt; oder auch nicht in der islamischen Sphäre, wohin der »Der Weg nach Mekka« weist.
Es kann auch in einer Wiener Frauenklinik anzutreffen sein (»In die Welt«, Constantin Wulff), wenn der Alltag von Schwangerschafts-Betreuung, Untersuchungen und Geburtshilfe den Nachweis erbringt, dass die Art, wie man geboren wird, einen fürs Leben prägt. Am entgegengesetzten Ende des Lebensfadens knüpft Norman Richter in »Heidelberg« ein Gedächtnisband für seine Großmutter. Der Enkel sucht die Begegnung und Vergegenwärtigung in ihrem Haus und Garten, ihrem Zimmer, den Stillleben vertrauter Gegenstände und bannt das Verlöschen der sehr alten Frau und ihr Fixiert-Sein auf einen einzigen, von ihr unermüdlich wiederholten Gedanken.
Verborgen liegt auch die Seele einer jungen Frau, Kay-Gwendolin, die sich mit 25 Jahren umgebracht hat. Warum? »Zuletzt befreit mich doch der Tod« (Beate Middeke) listet die Chronik einer Zerstörung, protokolliert entlang der Aussagen von Familie und Freunden, Betreuern und Therapeuten und der Stimme der Toten selbst, die aus ihren Aufzeichnungen spricht. Über ihrem Schicksal liegt der Vorwurf sexuellen Missbrauchs durch den Stiefvater mit Billigung der Mutter, der Verfertigung von Porno-Videos und des Weiterverkaufs des Kindes an pädophile Männer. Doch gibt es keinen eindeutigen Beweis, keinen hinreichenden Tatverdacht. Traumatisierung und Erinnerungslast Gwendolins, die sich abgrenzend Kay nennt, waren so groß, dass sie nach Suizidversuchen, anorektischen Schüben und grausamsten Verstümmelungen von eigener Hand nichts als die Selbstauslöschung ersehnte. »Ihr hindert mich zu sterben, aber ihr könnt mir nicht helfen zu leben.« Ein Satz, wie gemeißelt für ein Epitaph. Eine große, fürchterliche Katastrophe.
Und noch ein Memorial – und Memorandum zur Leistungsgesellschaft mit ihren brutalen Gesetzen, die ein Fit-Machen für Bewerbung, Job, Arbeitsmarkt erfordern, ohne Rücksicht auf Verluste. »Sollbruchstelle« ist das imponierend persönliche, visuell lupenrein geglückte, gleichnishaft verdichtete Porträt von Eva Stotz über (wie sich erst am Ende der Filmstunde darstellt) ihren Vater Franz, der sich als Manager nach betriebsbedingter Kündigung in seine Firma zurückklagt, dort dann sechs Jahre der Kontaktsperre unterliegt und ohne Aufgabe in ein Büro abgeschoben und von der Drangsal mürbe gemacht wird.
Wie Produktivkraft auf ganz andere, hybride Weise verschwendet wird, zeigt »Henners Traum« (Klaus Stern), dem nicht viel zur Realsatire fehlt. Der Bürgermeister der hessischen Kommune Hofgeismar mit 16.000 Einwohnern will hoch hinaus. Er plant, die Staatsdomäne Beberbeck umzuwandeln und aus der Kulturlandschaft ein Resort mit Hotels, Villen, Golfplätzen und künstlichen Seen zu schaffen. Animiert von einem alerten Bau-Tycoon, der sonst Prestige-Projekte für Oman und Dubai in den Sand setzt, will er – der Bürokrat als Hasardeur – den 420-Millionen-Euro-Freizeitpark stemmen. »Ein bisschen wie Versailles« könnte es werden. Indes einer der umworbenen, aber abwinkenden Investoren warnt, Henner Sattler sei nicht Ludwig II. und nicht jede schlafende Schöne vertrüge es, wach geküsst zu werden. Aber der Gemeindevorsteher lässt es sich nicht verdrießen, bereist Cannes und Nizza, besucht die ITB, knüpft Kontakte (»We have only Landwirtschaft«) und kriegt reihenweise Körbe. Chronologie des Scheiterns. Kommentierend klingt es dazu in Hofgeismar vom Glockenturm »Wem Gott will rechte Gunst erweisen«. Bis auf weiteres.
Eine markante Konstante im Duisburger Programm ist die Entdeckung extraordinärer Charaktere. Béla Bartók zum Beispiel (»Bartóks Requiem« von Janil Lorenzen) und seine musikalischen Recherchen in Siebenbürgen – einer Welt von gestern, unter deren Himmel viel geweint wurde und die Tränen zu Noten gerannen. Eine Symphonie ländlichen menschlichen Lebens und seiner Verrichtungen, manchmal fast ein abstrakter Film, wenn Geigensaiten, Klavierhammer-Anschläge, Tonwalzen, Tonbandspulen und Schienenstränge einen Sound ergeben und das Phänomen Vergänglichkeit in den Filmbildern selbst gespeichert zu werden scheint, der Zug der Zeit Fahrt aufnimmt, sich wieder verlangsamt und stoppt.
Oder der Ethnologe Bronislaw Malinowski, der 1914 als »Argonaut« in den südlichen Pazifik aufbrach, um die sogenannte Zivilisation hinter sich zu lassen, mit den Eingeborenen von Papua-Neuguinea zu leben und jeden Kontakt zu Weißen abzubrechen. Seine Spuren verfolgen Philipp Mayrhofer / Christian Kobald (»The Moon The Sea The Mood«) mit Hilfe von Malinowskis Tagebuch, das dessen kolonialen Stolz ebenso dokumentiert wie die bald beklagte »freiwillige Gefangenschaft« und »metaphysische Trauer«, wachsende Gleichgültigkeit und Gereiztheit gegenüber den »steinzeitlichen« Ureinwohnern und ihrem »Pandämonium« nebst der Sehnsucht nach seiner Mutter und Londons Hyde Park.
So wie sich Malinowski Verdienst erworben hat durch das Entziffern magischer Texte, war Muhammad Asad Neu-Ausdeuter des Korans. Sein Leben beginnt in der Ukraine, führt über Wien und Palästina nach Saudi-Arabien und Pakistan, weiter nach New York und zurück nach Marokko und Spanien, wo es 1992 endet. Als Jude Leopold Weiss in Lemberg geboren, 1926 zum Islam konvertiert und von der Familie verstoßen, ist er ein anderer Lawrence of Arabia und hätte, wie sein Halbbruder sagt, ein islamischer Martin Luther werden können. Ein Reformator, der Orient und Okzident versöhnen wollte; ein Diplomat, der an Pakistans Verfassung entscheidend mitschrieb; ein Weiser, der bis heute den friedfertigen Islam repräsentiert, der den Fundamentalismus des Zionismus ebenso ablehnte wie das Fanatische der Muslime; ein Freigeist, bemüht um spirituelle Wahrheit und die Tugenden von Mäßigung und Selbsthingabe. Der Filmemacher Georg Misch eignet sich Asads Sichtweise an, wenn er auf dem »Weg nach Mekka« (im Anschluss Kino-Bundesstart 27.11.) Israels Mauer, die die Palästinenser isoliert, ebenso kritisch ins Auge fasst wie den eifernden Dogmatismus eines Imam an der Gruft des Gelehrten, der die Abmessungen des Grabmals korrigieren und der Friedhofs-Norm anpassen will.
Asad, der für die Gleichstellung der Frau im Islam eintrat, hätte Gefallen gefunden an Sonbol, der geschiedenen 35-jährigen Zahnärztin aus dem Iran, die gegen Widerstände ihr Recht erstreitet, unter Männern eine Auto-Rallye zu fahren. Aufmüpfig ist sie, selbstbewusst, unangepasst. Mutig setzt sie sich über gesellschaftliche Regeln, verordnete Zwänge und das überkommene Frauen- und Mutterbild hinweg, um zugleich zu erkennen, dass Entwicklungsprozesse nur langsam vonstatten gehen und sie deren Ergebnis wohl nicht mehr erleben wird. Denn Optimismus wäre hier ein Mangel an Erfahrung. »Ein schlechtes Mädchen« nennt ihre Mutter sie liebvoll kritisch. »Egal, was man macht, am Ende sind immer die Frauen schuld«, weiß sie. Und auch, dass in einem Gottesstaat wie dem Iran Menschen verschiedene Identitäten annehmen, Masken tragen müssen. Am Ende Niko Apels »Sonbol« muss sie die Rallye abbrechen. Ein Reifen scheint geplatzt zu sein. Vielleicht war es Sabotage. Es wird Sonbol nicht aus der Bahn werfen. //
3. bis 9. November 2008; Filmforum am Dellplatz; www.duisburger-filmwoche.de