TEXT: ULRICH DEUTER
Nach der Party kehrt meist eine merkwürdige Stille ein, und nur der Restalkohol verzögert noch die klare Sicht auf das, was zwischen den leer getrunkenen Gläsern unerbittlich hervor starrt: der graue Alltag. So war es auch eine Zeitlang nach Ende der Kulturhauptstadt, der Blick blieb zurückgerichtet auf ein Jahr voll Lebendigkeit, Ideenreichtum, Kooperationsbereitschaft, Urbanität – auf all das mithin, woran es sonst im Ruhrgebiet so mangelt.
Aber die Party ist aus, und zurück auf den harten Boden der Tatsachen zu fallen hilft den Feiernden eine Studie, die nicht von Werbern, sondern von Wissenschaftlern verfasst ist, die engagiert, aber unerbittlich analysieren. Das Buch heißt »Viel erreicht – wenig gewonnen« und, im Untertitel noch einmal nachlegend gegen Ruhrstadt- und Metropolen-Träumer: »Ein realistischer Blick auf das Ruhrgebiet«. Die Autoren sind vier Professoren der Universität Bochum, die Soziologen Jörg Bogumil, Rolf G. Heinze, Klaus Peter Strohmeier sowie Emeritus Franz Lehner, der auch Direktor des Instituts für Arbeit und Technik der FH Gelsenkirchen war.
Der »realistische Blick« erkennt große Anstrengungen und noch größere Visionen – aber wenig konkrete Verbesserung. Die Arbeitslosenzahlen sind überdurchschnittlich, die Kommunen verarmen immer weiter, verhaften gleichwohl in Konkurrenz- und Kirchturmsdenken; die Anzahl der Alten nimmt überproportional zu, junge Familien wandern ab; der Graben zwischen einer verarmenden »Unterstadt« nördlich und einer bürgerlichen »Oberstadt« südlich der A40 vertieft sich: Im Ruhrgebiet ist eine neue Unterschicht entstanden, die kaum noch »Humanvermögen« besitzt, also jene »elementaren Daseinskompetenzen und Motivationen«, ohne die Wissen und Fähigkeiten gar nicht erst entstehen können. Die Lebensqualität ist so viel schlechter als woanders, dass sie zu einem »Engpassfaktor der wirtschaftlichen Entwicklung« geworden ist, noch immer gibt es nicht einmal ein gemeinsames Verkehrskonzept; verfestigte Lebenslügen und aus der Montanzeit rührende »mentale Schwächen« erzeugen illusionäre Visionen und verhindern die Sicht auf neue, realistische Lösungswege.
Das alles ist überhaupt nicht neu, doch da es hier aus professoraler Feder stammt, ist es ein ernstzunehmender Strich durch die Hochglanzbroschüren der Revier-Verklärer, die eine erträumte Zukunft herbeibehaupten. Doch klagen ist einfach – welche Auswege bieten die vier Soziologen an?
Ihr Königsweg ist die »funktionale Differenzierung«. Nach dem Ende der Montanindustrie sei negiert worden, dass mit dieser auch die wirtschaftliche Einheit des Reviers verschwunden sei, der Verlust sei durch immer neue Pläne einer immer neuen ruhrgebietsweiten Ökonomie (erst Dienstleistungs-, dann IT-, dann Kreativwirtschafts-Metropole) »übertüncht« worden. In Wahrheit habe die Wirtschaft sich ausdifferenziert, überall seien im kleineren Maßstab Kompetenzfelder entstanden.
Allerdings: nicht abgestimmt, nicht sinnvoll organisiert. Nach wie vor wolle jede Kommune möglichst viel für sich bekommen und auf ihrem Terrain versammeln, von der nächsten Fachhochschule bis zum neuen Einkaufszentrum. Und das sei die Crux. Denn anders als in Städten wie etwa Stuttgart (ungefähr so groß wie Dortmund oder Essen) könne keine einzige Ruhrgebiets-Kommune die Funktion eines Oberzentrums erlangen: »Der Grund dafür ist, das im Umland gleich mehrere andere Städte sind, die das Gleiche anbieten und sein wollen – die sich selber nach Kräften Konkurrenz machen. Dadurch verpufft das wirtschaftliche Potenzial.«
Auch dies eine richtige, wiewohl bekannte Analyse. Und nun die »funktionale Differenzierung«: Sie bedeutet, bestimmte herausragende Kompetenzen, seien es Bildungseinrichtungen, seien es ökonomische Cluster, auf einzelne Städte zu verteilen, die eine hierhin, die andere dorthin, »so dass jedes Zentrum in bestimmten Bereichen das Zentrum des ganzen Ruhrgebiets (und seines Umlandes) ist.« In der Logistik-Branche sei dies in Dortmund und Duisburg schon ganz gut gelungen.
Die Idee ist so einfach wie bestechend. Doch warum, fragt man sich, fragen sich die vier aus Bochum dito, ist dies in der Vergangenheit nicht schon längst so gehandhabt worden? Antwort: Weil im Ruhrgebiet eine »verquere ›Konsenslogik‹« herrsche, ein Erbe der Montanzeit. »In dieser Logik werden Verteilungskonflikte so gelöst, dass alle Städte (und auch die anderen wichtigen Akteure) einen Anteil am Kuchen erhalten – und wenn das nicht geht, dann kriegt niemand was.« Das trifft’s exakt; in der Analyse sind die vier Professoren unübertroffen. Wie aber bricht man diese »Konsenslogik« auf?
Auf Seite 149 bietet das Buch einen dezidierten Leitfaden für den Aufbau interkommunaler Zusammenarbeit an (»Mit Einzelprojekten beginnen«), auf Seite 173 folgen drei »Lektionen« aus dem Versagen des bisherigen Strukturwandelpolitik – usw., usf. Doch all dies vermag den Archimedischen Punkt nicht zu benennen, von dem aus das notorische Festhalten an falschen Mustern 50 Jahre nach dem Anfang vom Ende der Zechenzeit, 20 Jahre nach der IBA Emscherpark, nach stupenden Erfahrungen mit dem Scheitern interkommunaler Konkurrenz im Ruhrgebiet auszuhebeln wäre. Das Land NRW soll das Movens eher nicht sein: Da die neue Art der Zusammenarbeit nur über sehr viele »Köpfe und Kommunikation« herzustellen sei, befinde sich die Landesebene zu weit weg. Gegen einen gemeinsamen Regierungsbezirk Ruhrgebiet sind die vier Autoren ebenfalls, weil er das Revier von seinem Umland abkapsle (ein realitätsfernes Argument, wie die Autoren überhaupt in dieser Frage in sich widersprüchliche Argumente anführen).
Immerhin plädieren sie für die Übernahme der Erfahrungen, die die Kulturhauptstadt in Sachen Vernetzung gemacht habe (die Fortdauer dieses Netzes allerdings muss sich noch weisen) sowie für einen »Wettbewerb zur Entwicklung von lokalen Wachstumspolen«, der fruchtbare Konkurrenz fördere und durch Formen »hoher Sichtbarkeit« Öffentlichkeit herstelle. Eine gute Idee, die jedoch nicht minder die nächsthöhere Ebene benötigt und damit genau der Ruf nach dem Staat ist, der ein paar Seiten später als Kern des bisherigen Übels benannt wird.
Nun sind den Autoren genaue Kenntnis der Sachlage, große Ernsthaftigkeit und brennende Sorge um die Zukunft des Ruhrgebiets nicht abzusprechen, im Gegenteil. Auch sind ihre Empfehlungen einleuchtend, wenn auch nicht die einzig möglichen. Ihre Vorschläge der Umsetzung jedoch basieren auf dem Prinzip Hoffnung (»der Finanzdruck«) oder sind insofern richtungslose Appelle, als sie sich an alle richten: die gesamte Zivilgesellschaft. Denn den vier Professoren geht es – löblicherweise – nicht nur ums ökonomische, sondern auch ums Humankapital, etwa eine groß angelegte Bildungsoffensive in der »Unterstadt«, wo die meisten Kinder leben, oder um tiefgrundierte Verbesserung der urbanen Qualität. Am Ende hat man den Eindruck, es müssten zum Zwecke eines wirklich gelingenden Strukturwandels alle Einwohner des Ruhrgebiets aufstehen und anpacken, die Politiker, Wirtschaftsführer und Firmeninhaber, Hochschulrektoren, Amtsleiter und Vorsitzenden aller Verbände und Kammern, Hauseigentümer, Stadtplaner, Verkehrsexperten, Ladenbesitzer, aber auch Vereine und Bürgerinitiativen. Diese Art Ansprache aber kennt man sonst von Kirchentagen.
Bogumil/Heinze/Lehner/Strohmeier: »Viel erreicht – wenig gewonnen.« Klartext Verlag Essen, 178 Seiten, 17,95 Euro