TEXT: ANDREJ KLAHN
Einen neuen Anzug und einen Spazierstock mit Adlerrachen-Griff aus 925er Sterling-Silber gönnt sich Luka Lewadski für die letzte Reise. Der 96-jährige Ornithologe leidet an einem inoperablen Lungenkarzinom. Statt sich chemotherapeutisch das Leben zu verlängern, hat sich Lewadski entschlossen, den Krebs Krebs sein zu lassen und stattdessen ein einziges Mal in seinem Leben richtig groß aufzufahren. Im Wiener »Hotel Imperial« will der emeritierte Professor die letzten Tage verbringen. Dort logierte er schon vor Jahren, als er mit einem bahnbrechenden Vortrag zur Mobilität des Waldrapps Erfolge feierte.
Lewadski ist ein sympathischer Kauz, für den die Krankheit eine Verjüngungskur bedeutet. Doch bei aller Schrulligkeit dieses Charakters lässt die 1981 in Odessa geborene Marjana Gaponenko ihn nicht ins Lächerliche kippen. Ganz im Gegenteil: Lewadski wird ihr in »Wer ist Martha?« zum gebrechlichen Helden wider die Tyrannei der Vernunft. Dafür überblendet Marjana Gaponenko, die seit ihrem 16. Lebensjahr auf Deutsch schreibt, geschickt Erinnerungen, Halluzinationen, Rauschzustände und Träume. Wobei sich der Roman mit seinen Exkursionen in die Kindheit Lewadskis wie eine Sammlung locker miteinander verbundener Geschichten liest. Gaponenkos neoromantisches Wiederverzauberungsprogramm der Welt findet seinen Höhepunkt an der Theke der Hotelbar, wo zwei bestens melancholisch gelaunte, todkranke alte Männer darüber tiefgründeln, was das Leben lebenswert macht.
Der Wille zur stilistischen Originalität ist in »Wer ist Martha?« auf jeder Seite spürbar. Während Lewadski sich in der Zerstreuung sammelt, um dem Leben noch einmal Schwingen zu verleihen, verströmt Marjana Gaponenko in ihrem zweiten, mit dem Chamisso-Preis ausgezeichneten Roman reichlich poetisches Parfüm wider den Krankenhausgeruch. Bisweilen duftet das aber doch ein bisschen sehr süßlich.
Marjana Gaponenko: »Wer ist Martha?«; Suhrkamp, Berlin 2012, 237 S., 19,95 Euro
Lesung am 21. Juni 2013 im Steigenberger Hotel (3. Düsseldorfer Literaturtage); am 25. Juni im Frageraum (Riegerstr. 86) in Marl