Text: Andrej Klahn
»Wenn du das Glück hattest, als junger Mann in Paris zu leben, dann trägst du die Stadt für den Rest deines Lebens in dir«, so hat Ernest Hemingway sich rückblickend an seine Zeit in der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts erinnert. Walker Evans, der Hemingway später auf Kuba begegnen sollte, trug Paris schon in sich, bevor er überhaupt einen Fuß auf europäisches Festland setzen konnte. Weniger als realen Ort, denn als geistige Lebensform. Bevor Evans am 6. April 1926 mit Mutter und Schwester Richtung Europa aufbricht, bereitet er sich akribisch vor. Er lernt Französisch, macht sich mit den Symbolisten vertraut und übersetzt ein Essay Rémy de Gourmonts, in dem sich der Schriftsteller über die Furcht der Amerikaner vor den moralisch vermeintlich wenig zuverlässigen französischen Büchern lustig macht. Ein Gefühl, das Evans nicht teilte. Im Gegenteil.
Was Evans, wie so viele Amerikaner, denen der Sinn nach Szenen der Bohème stand, Mitte der 1920er Jahre in Paris suchte, war Anschluss an die Künstlerszene. Ihre antibürgerliche Haltung und ihr Habitus interessierten ihn. Mit Geringschätzung blickte er hingegen auf den Konformismus des amerikanischen Traums. Den Großteil seiner Kindheit hatte Walker Evans, der auf denselben Vornamen wie sein Vater und sein Großvater hörte, mit Familie und Dienstpersonal in Kenilworth, Illinois, verbracht, einer Schlafstadt im nördlichen Einzugsgebiet von Chicago. Dort, wo die strebsame Middle class wohnte, deren Fortschrittsoptimismus, puritanische Moral und materielle Ambition Walker Evans III verachtete. Statt den eigentlich vorgezeichneten Weg an einer der Elite-Universitäten der Ostküste zu gehen, verbrachte der selbsterklärte »pathologische Buchliebhaber« seine Tage lieber in der Bibliothek des Williams College, um sich auf den neusten Stand in Sachen zeitgenössische Literatur zu verbringen. Evans fiel durch die Mathe- und Latein-Prüfungen. Nach zwei Semestern war vorzeitig Schluss.
Der 1903 in Saint Louis, Missouri, geborene Mann, der zur Schlüsselfigur der zeitgenössischen amerikanischen Fotografie werden sollte, wollte Schriftsteller werden. Einer wie James Joyce, den Evans später einmal als seinen »Gott« bezeichnet hat. Paris sollte die entscheidende Etappe auf diesem Weg sein. Evans drückte sich in Sylvia Beachs legendärer Buchhandlung »Shakespeare and Company« herum, wo sich die Hautevolee des literarischen Modernismus die Klinke in die Hand gab. Irgendwann muss der 23-Jährige dann auch die Aufmerksamkeit der Inhaberin auf sich gezogen haben. Als Beach bemerkte, dass sie es mit einem Kenner des »Ulysses« zu tun hatte, bot sie Evans an, ihn Joyce vorzustellen. Die Legende will, dass Walker Evans den Laden verängstigt und fluchtartig verließ, bevor es zur Begrüßung hätte kommen können.
Es verwundert nicht, dass Evans in den dreizehn Monaten, die er in Paris bleibt, wenig zu Papier bringt, was den eigenen kritischen Ansprüchen genügen konnte. Wer sich nicht in der Lage sieht, dem großen Vorbild zumindest buchstäblich die Hand zu reichen, sollte besser Abstand von der Idee nehmen, das eigene Schreiben an dessen Werk zu messen. Oder es ganz sein lassen. Zurück in Amerika, verabschiedet sich Evans dann auch rasch von der Schriftstellerei und wendet sich der Fotografie zu.
Ausgerechnet dieser kulturelle Außenseiter, der sich von der Gesellschaft seiner Heimat entfremdet fühlte, sollte zu einem der bedeutendsten Porträtisten der USA werden. John Szarkowski, der in seiner Zeit als Direktor der Fotografie-Abteilung des Museum of Modern Art mit einer großen Retrospektive 1971 die Wiederentdeckung Walker Evans’ einleitete, hat es einmal sehr prägnant so formuliert: »Es lässt sich heute kaum mit Sicherheit sagen, ob Evans das Amerika seiner Jugend nur abbildete oder es tatsächlich erfand.« Vielleicht brauchte es für diese Erfindung den Umweg über Europa, den entfremdeten Blick.
Evans’ ästhetisches Referenzsystem war entschieden französisch geprägt. Gustave Flaubert und Charles Baudelaire waren seine Bezugspunkte. Bei Flaubert fand er eigenem Bekunden nach die Methode. Es fällt nicht schwer, in Evans’ dokumentarischem Stil Flauberts leidenschaftslose Distanz zum Gegenstand, das Verschwinden des Autors und die Nicht-Subjektivität wiederzuerkennen. Baudelaire hingegen habe, so Evans, als Theoretiker der Moderne, der gewöhnliche, flüchtige Phänomene des Alltags zum Gegenstand von Kunst erhob, den größten Einfluss auf ihn ausgeübt.
Doch die Fotografien, die Evans Ende der 1920er Jahre zu machen beginnt, verraten zunächst noch einen ganz anderen europäischen Einfluss. Er löst Häuserfassaden der Wall Street im geometrischen Formenspiel auf, fotografiert auf New Yorker Straßenecken herunter und schaut auf zu den ineinander verschlungenen Transportschächten eines kanadischen Getreidesilos. Fensterfronten haben es ihm angetan, dann wieder stellt er sich mit der Kamera unter die Brooklyn Bridge. Seine Faszination für die urbane Dynamik und experimentelle Perspektivenverschieberei speist sich ganz offensichtlich aus der Schule des Neuen Sehens, die sich ein paar Jahre vorher in Europa entwickelt hatte. Wie auch schon in literarischen Dingen, zeigt sich Evans mit diesen Bildern zwar ganz auf der ästhetischen Höhe seiner Zeit. Doch zu einem eigenen Stil hatte er damit noch nicht gefunden.
Sein »documentary style« sollte kurz darauf Form annehmen. Er verbindet die sachliche, distanzierte Bestandsaufnahme dessen, was ist, mit dem Anspruch auf künstlerische Gestaltung. Evans selbst hat dieses Etikett einmal gegen den herkömmlichen Begriff von Dokumentation geschärft: »Ein Beispiel für ein tatsächliches Dokument wäre die Polizeifotografie vom Tatort eines Mordes. Aber die Kunst folgt keinem Zweck, und ein Dokument hat einen Zweck. Und deshalb ist Kunst niemals ein Dokument. Aber sie kann sich diesen Anschein geben.«
Die Aufnahmen, die Evans Mitte der 1930er Jahre im Auftrag der staatlichen Farm Security Administration in den verarmten, unter der Großen Depression leidenden ländlichen Regionen der Südstaaten anfertigte, haben sich als unvergessliche Muster seiner stilbildenden Auffassung von Fotografie ins kollektive Gedächtnis eingegraben. Vor allem die Porträts der Pächterfamilie Burroughs, Nahaufnahmen der ernsten, ausgezehrten Gesichter von Floyd und Allie Mae, die unerschrocken und offen Evans’ Kamera standhalten. Wäre es nach seinen Auftraggebern gegangen, dann hätte Evans mit Fotos nach Hause kommen sollen, die die bittere Armut der Landbevölkerung genauso wie die positiven Effekte von Präsident Roosevelts New Deal-Politik festhalten. Bilder sollte er machen, mit denen man die Sinnhaftigkeit des Programms vor Augen führen und für dessen Fortsetzung werben konnte.
In seinen Verhandlungen mit den Verantwortlichen beharrte der zu dieser Zeit arbeitslose Evans aber selbstbewusst darauf, keine Propaganda abliefern zu müssen. »Keine Politik, welcher Art auch immer.« Evans hatte den Eindruck, als wandernder Sozialhistoriker unterwegs zu sein, eine Rolle, die seinen Interessen durchaus entgegen kam. Der Auftrag bescherte ihm »eine subventionierte Freiheit, um meine Sachen zu machen«!
Das sich über mehr als vier Jahrzehnte erstreckende Schaffen Evans’ steht bis heute im Schatten des Erfolges, den die für die FSA aufgenommenen Bilder hatten. Die große Retrospektive, die das Josef Albers Museum Quadrat in Zusammenarbeit mit dem High Museum of Art in Atlanta zeigt, richtet nun einen tiefenschärferen Blick auf das gesamte Lebenswerk. Sie verfolgt mit den frühen Arbeiten, wie Anfang der 1930er Jahre Evans’ Bildsprache in New York Form annimmt, zeigt seine Dokumentation viktorianischer Architektur und den Ertrag seiner dreiwöchigen Kuba-Reise im Mai 1933, auf der er auch mit der kurz zuvor erworbenen Großformatkamera fotografiert. Evans hält Straßenszenen fest, fertigt Porträts und frontal aufgenommene Ansichten von mit Werbeplakaten überladenen Häuserzeilen. In Pennsylvania nimmt er einen Autofriedhof, Schaufenster und Straßenzüge auf, er baute seinen Apparat immer wieder vor Billboards und Werbeschildern auf.
»Farb-Fotografie ist vulgär«. Aus Evans’ eloquenten Ausführungen zum Wesen der Fotografie wird diese polemische Behauptung gerne zitiert. Sie findet sich in einem Essay aus dem Jahr 1969. Die dann folgenden Sätze relativieren die Schärfe der Behauptung allerdings: »Nur dann, wenn die Pointe eines Bildgegenstands gerade seine Vulgarität oder sein Farbzufall von Menschen-, nicht von Gotteshand ist, kann Farbfilm berechtigt verwendet werden.« Farbe, so Evans, könne nur von einem Fotografen eingesetzt werden, der ein »Künstler von vollendetem Geschmack ist.«
Evans selbst experimentierte durchaus mit farbigen Aufnahmen von Tür- und Wandausschnitten und fertigte auf Autofriedhöfen ins Abstrakte tendierende Bilder mit übereinander gestapelten Wracks. Knapp zwei Jahre vor seinem Tod stürzte sich Walker Evans dann geradezu in die Farbfotografie, nachdem er sich eine Polaroid SX-70 zugelegt hatte. Rund 2400 Bilder entstehen in dieser Zeit, und auch wenn in vielen dieser Aufnahmen die Apparatur die Kommandohoheit übernommen zu haben scheint, zeugen sie doch bis zuletzt von Evans’ ungeheurer Beharrlichkeit, die Gegenwart in Bildern zu fassen zu bekommen.
Walker Evans: »Tiefenschärfe. Die Retrospektive«. Bis 10. Januar 2015