TEXT: STEFANIE STADEL
Bemalte Lippen, getuschte Wimpern. Das Kinn kantig, spitz die Nasen, Brillen, Schuhe. Das Personal der »Cocktailparty« zeigt sich mit hohen Hacken und viel Bein. Manchmal reichen aber auch allein der Kopf im Scherenschnitt-Profil und ein geöffneter Mund als Quelle beeindruckender Smalltalk-Ergüsse.
Saul Steinberg hat die unnahbare Belegschaft seiner kolossalen Collage aus Packpapier gebastelt und das Gerede dazwischen unleserlich in Schnörkel und Blasen gekritzelt, die den nachtschwarzen Grund erfüllen. Viel Platz bleibt nicht frei auf der drei Meter hohen Tafel – fast sieht es so aus, als wollte sich der Künstler mit dem ungezwungenen All-over aus wirbelnden Wortbändern über die wilden Malaktionen von Pollock & Co. lustig machen. Zuzutrauen wäre es ihm. Und auch die Zeit würde gut passen: Steinberg entwarf seine »Cocktailparty« Ende der 50er Jahre, als der Abstrakte Expressionismus voll durchgesetzt und allgegenwärtig war in den USA – ebenso angesagt wie die beiläufige Konversation auf schicken Stehempfängen.
Die scharfe Zeitgeist-Skizze ist Teil eines ganzen Panoramas, eigens entstanden für die EXPO 1958 in Brüssel und jetzt im Museum Ludwig erstmals seit 55 Jahren wieder komplett zu bewundern: Acht große Bildwände, die auf einer Gesamtlänge von mehr als 70 Metern ein Gesellschaftsbild zeichnen – voller Ironie, aber niemals verletzend.
Da zeigen sich »The Americans« mit allem, was dazu gehört:Drugstores, Wolkenkratzer und Veranden mit Schaukelstühlen. Comics und coole Cowboys. Baseballstadien und Blechlawinen, die sich über Highways schieben. Steinberg lässt kein Klischee aus. Alle bringt er sie in seiner eigenen, reduzierten Sprache aufs Tapet. Den Hintergrund für das aus Packpapier, Tapetenresten, Comicseiten zusammengeklebte Spektakel bilden plane Flächen, wie bei der »Cocktailparty«. Häufiger aber setzt Steinberg seine Akteure und Architekturen auf riesige fotografische Reproduktionen älterer Zeichnungen aus dem eigenen Œuvre.
Das Museum Ludwig stellt diesen portablen Wandbildern nun weitere Werke des Künstlers aus den 50er Jahren zur Seite. Zeichnungen, die auf kleinerem Format, aber nicht weniger treffsicher, Steinbergs Lieblingsthemen angehen. Wenn breite Straßen und Brücken die Ortschaften überwuchern und der Wolkenkratzer-Klotz aus Karopapier das Stadtbild erschlägt. Wenn der Baseball-Catcher sich mit seinem Panzer aus Wellpappe brüstet oder vier gewichtige Damen ihre Pelzmantel-Ungetüme spazieren führen.
PAPIERTÜTEN ZU MASKEN
Daneben können in Köln einige Stücke die mediale Experimentierfreude des Künstlers belegen. So wählte er nicht immer das Blatt Papier zum Zeichnen und Collagieren. Auch Papiertüten kamen in Frage, die sich mit Steinbergs Dazutun in wunderbare Masken verwandelten. Auch hinterließ er Spuren auf Wänden und Treppen. Oder in der Wanne, wo sich die wohlgeformten Konturen einer Badenden abzeichnen. Geblieben sind Fotos dieser beinahe installativen Arbeiten. Alles zusammen gibt in der Schau ein rundes Bild ab von Steinbergs wohl spannendster Phase. Es wird klar, auf welche Weise er sich das Know-how des hervorragenden Cartoonisten für seine Kunst zu nutze machte. Einer Kunst, die ihm 1957 den Großauftrag in Brüssel einbrachte. Sicher ein Höhepunkt in Steinbergs Karriere.
Es war die erste Weltausstellung nach dem Zweiten Weltkrieg. Bekannt durch das Atomium, geprägt von Rivalitäten zwischen Ost und West und international vielbeachtet als Zeichen des Aufbruchs. In sechs Monaten brachte es diese Expo auf mehr als 40 Millionen Besucher. Unter ihnen Kasper König, damals 15 Jahre alt und wohl ziemlich beeindruckt – auch von Steinbergs Tafeln, die sich damals im luftig-lichten Rundbau des US-Pavillons zwischen Bäumen am Rande eines großen Bassins reihten.
König bewahrte seine guten Erinnerungen an die »Americans« offenbar über die Jahrzehnte hinweg und fädelte vor seinem Abschied vom Direktorenposten im Museum Ludwig noch eben dieses bemerkenswerte Revival ein. Die lange im Depot der Brüsseler Musées des Beaux-Arts verborgenen und eigens für den Auftritt in Köln aufgearbeiteten Werke machen bekannt mit einem erstaunlichen Künstler, der in Europa bisher, wenn überhaupt, zuerst aus dem angewandten Kontext bekannt war.
Auch in seiner amerikanischen Wahlheimat kannten ihn die meisten seit den 40ern vor allem als Cartoonisten, weitverbreitet waren Steinbergs zeichnerische Attacken, die auf die US-Gesellschaft blicken lassen – mit den Augen des Emigranten. Und mit einem ausgeprägten Gespür für die Wechselfälle des Schicksals. Das kam nicht von ungefähr.
DER BLICK DES FREMDEN AUF DIE NEUE WELT
Steinberg hatte eine wahre Odyssee hinter sich, als er 1942 nach New York gelangte. 1914 in Rumänien geboren, musste er als Jude zum Architekturstudium nach Mailand wechseln. 1941 gelang ihm die Flucht aus dem faschistischen Italien nach Portugal, dann per Schiff in die Dominikanische Republik, wo er monatelang auf das Einreisevisum der Vereinigten Staaten wartete. Als Steinberg schließlich eintraf, faszinierte ihn alles an der neuen Heimat: »Ich zeichnete all diese Dinge, die zuvor nicht gezeichnet worden waren – amerikanische Frauen, Baseballspiele, Kleinstädte, Motels und Imbisse …«
Die Wochenzeitschrift The New Yorker nahm den Neuankömmling sofort unter Vertrag. Daneben veröffentlichte er auch in anderen Blättern, schöpfte Entwürfe für die Werbung, für Stoffe und Tapeten, gestaltete Weihnachtskarten und begann, in Galerien auszustellen. Bei alldem erkannte Steinberg sehr wohl seine singuläre Position. »Die Kunstwelt weiß nicht, wo sie mich hinstecken soll«, stellte er einmal fest. Mit spitzer Feder und seinem hemmungslosen Hin und Her zwischen Frei und Angewandt durchbrach er die Grenzen von high und low.
Als Künstler entwickelte er seine eigene Sprache, auf der Grundlage des Cartoons und in Anlehnung an die Kunstgeschichte – vor allem fühlt man sich an den modernen Primitivismus eines Paul Klee oder eines Jean Dubuffet erinnert. Mit Blick auf Steinbergs Zeitgenossen fällt die Verwandtschaft zu Jasper Johns ins Auge und noch mehr zu Robert Rauschenberg, der auf seinen Combine-Paintings allerlei Gegenstände des täglichen Lebens befestigte – Comics und Tapetenreste waren auch dabei.
Es könnte einen durchaus wundern, dass das Planungskomitee ausgerechnet einen wie ihn mit den Arbeiten im Brüsseler US-Pavillon betraute – einen Immigranten, einen künstlerischen Sonderling. Einen, dem Nationalstolz fremd war und der sich Amerika bis dahin ausschließlich mit Ironie genähert hatte. Loblieder waren von Steinberg gewiss nicht zu erwarten – so viel musste klar sein.
Aber auf Eigenlob hatten es die Organisatoren damals, wie es scheint, auch gar nicht abgesehen. Während die Sowjet-union im Haus nebenan zwischen Leninstatue und sozialistischem Realismus die nationalen Errungenschaften der Schwerindustrie hochhielt und stolz ihre Sputnik-Modelle aufs Podest hob, schickten die Amerikaner in Brüssel täglich Models, angetan mit neuester Mode, auf den Laufsteg. Hier ging es vor allem um eines – den American Way of Life. »Wir haben nicht versucht, uns zu verkaufen«, resümierte ein Verantwortlicher. »Stattdessen haben wir versucht, uns zu entspannen, Spaß zu haben – vor allem, uns selbst auf die Schippe zu nehmen.« Dafür war Steinberg fraglos der richtige Mann.
Museum Ludwig, Köln bis 23. Juni 2013; Tel. 0221/221-26165. www.museum-ludwig.de