TEXT: STEFANIE STADEL
Alle wollen ihn sehen. Auch Paul Klee schließt sich1911 »dem Strom der Pinakothekbesucher an, der sich hinten bei El Greco zum tiefen See staut.« Was ihn an den zehn Werken jenes Alten Meisters begeistert, ist vor allem die erstaunliche Aktualität. Obwohl El Grecos Tod damals beinahe 300 Jahre zurückliegt, wirken seine Bilder ganz gegenwärtig auf Klee und die übrigen Besucher der Ausstellung mit Werken des 15. bis 19. Jahrhunderts aus der Sammlung des ungarischen Unternehmers und El Greco-Fans Marczell von Nemes.
Die allgemeine Greco-Manie ist auf ihrem Höhepunkt angelangt. Auch Klee fühlt sich dermaßen ergriffen beim Anblick der Arbeiten des spanischen Kult-Malers, dass es ihm anscheinend schwer fällt, klar zu denken. »Trotz meiner Gewohnheit sofortiger Analyse«, so gesteht er, »war ich erst beim so und so vielten Mal dazu gekommen – sosehr war ich hier zum Kind geworden«.
El Grecos Rolle als Vorläufer der Moderne ist oft gesehen, beschrieben und bejubelt worden. Eine Ausstellung, die das Phänomen angeht, fehlte aber bisher – zum Erstaunen von Beat Wismer. Als Generaldirektor des Museum Kunst Palast macht er sich deshalb daran, die Lücke zu schließen.
»El Greco und die Moderne« titelt seine Schau, die sich zum Ziel setzt, vor allem die Wirkung des Spaniers in Deutschland zu ergründen und dafür sogar einen schönen Anlass findet. Denn jene Ausstellung, die Klee in München bestaunt, wandert 1912, vor genau hundert Jahren, nach Düsseldorf, wo sie nicht zuletzt die rheinischen Expressionisten beeindruckt.
Es wäre ein großes Ausstellungsvorhaben für sich, den Einfluss zu belegen. Doch belässt es Wismer nicht dabei. Angestachelt von der erfreulichen Leihbereitschaft, setzt er noch eins drauf und kombiniert die thematische mit einer monografischen Ausstellung. Hierzulande ist es die erste überhaupt zu El Greco, was eigentlich noch mehr überrascht als die bisher fehlende Schau zu seiner Wirkung auf die Moderne.
In gut 40 Beispielen überblickt das Museum Kunstpalast nun also das Schaffen El Grecos. Jenes launischen, extravaganten, extrem selbstbewussten Sonderlings, der 1541 auf Kreta als Domenikos Theotokopoulos zur Welt kommt. Dort zunächst als einfacher Ikonenmaler arbeitet, bevor er Ende der 1560er Jahre nach Italien aufbricht, um sich in Venedig an Tizian und Tintoretto zu schulen und anschließend in Rom die Werke Michelangelos zu studieren.
Als er um 1577 nach Spanien übersiedelt, bleiben die Farben der Venezianer tonangebend. Doch kommen bald immer mehr expressive Freiheiten ins Spiel: El Greco stilisiert, deformiert, verfremdet. Er entwickelt seine grünlich-gräuliche Farbigkeit und eine verrückte Lichtregie, die wenige bunte Töne leuchtend hervorhebt, sie dabei ihrer beschreibenden Funktion enthebt, zu Ausdrucksträgern macht. Hinzu kommen die total überlängten, verdrehten Figuren mit ihren viel zu kleinen Köpfen – fern jeder realistischen Anatomie. Oft wirbeln Körper und Kompositionen gemeinsam um ein Zentrum. Bildräume entwickeln sich kaum, zuweilen aber auch rasant in die Tiefe.
Die Schau verfolgt das Schaffen von einer frühen Arbeit der griechischen Jahre des Malers bis ins Spätwerk, vertreten durch so prominente Gemälde wie die »Öffnung des fünften Siegels« aus New York oder aus Washington »Laokoon«, in dem El Greco den Kampf zwischen Menschen und Schlangen ganz anders als im berühmten plastischen Vorbild der Antike inszeniert. Die Gestalten des Vaters und seiner fünf Söhne treten bei ihm fast tänzerisch zueinander in Beziehung und passen sich in ihrer Haltung noch dazu dem Bildformat an. Im Hintergrund fällt der Blick auf die Stadtsilhouette von Toledo unter unheilvoll bewegtem Wolkenhimmel.
All das macht El Grecos Stil unverkennbar, wenn auch nicht unumstritten – zu seinen Lebzeiten ist die Wertschätzung des Malers begrenzt. Erst um 1900 gewinnt er kräftig an Renommee, auch weil man in ihm nun den Visionär erkennt, der einiges von dem vorweggenommen hat, was die Strömungen der Moderne ausmacht.
Dabei sind es zuerst späte Gemälde wie »Laokoon«, die Eindruck machen auf die Künstler. Mit insgesamt rund hundert Werken von 38 Meistern der frühen Moderne veranschaulicht die Düsseldorfer Schau die späte Wiederentdeckung El Grecos. Vor allem in Deutschland, wo der spanische Manierist einen beeindruckenden Aufstieg erlebt. Aus dem Nichts ganz nach oben: 1874 kennt man in hiesigen Sammlungen kein einziges Bild von seiner Hand; 40 Jahre später ist El Greco Tagesgespräch – im Kunsthandel, im Ausstellungsbetrieb, überall hört man seinen Namen. Und liest ihn in Rezensionen, Reiseberichten, Briefen, Tagebüchern.
Der Run auf die Kult-Figur aus Spanien fällt in eine höchst brisante Zeit. Alles Mögliche kommt seinerzeit zusammen, mischt die Szene auf: Picasso schafft 1907 seine »Demoiselles d’Avignon« und läutet damit den Kubismus ein, im selben Jahr startet das für die Entwicklung der modernen und abstrakten Kunst wohl wichtigste Ausstellungsereignis – die epochale Retrospektive für Paul Cézanne in Paris. 1911 gründet sich der »Blaue Reiter« und veranstaltet seine erste vielbeachtete Ausstellung mit neu-ester Kunst aus Deutschland, Frankreich, Russland. Außerdem tritt Kandinsky mit der legendären »Komposition V« hervor – sie gilt weithin als erstes ungegenständliches Bild überhaupt.
Warum fällt gerade in diesen bewegten Zeiten voller Neuigkeiten das Licht auf den alten El Greco? Faktisch hat das sagenhafte Revival zu Beginn des 20. Jahrhunderts natürlich mannigfache Gründe. Einen wichtigen liefert, zumindest für Deutschland, der berühmte Kunsthistoriker, -händler und -publizist Julius Meier-Graefe in seiner 1910 erschienenen »Spanischen Reise«. Nicht ohne Grund bringt sie dem Autor den Beinamen »Meier-Greco« ein. An sich ist es ein Reisetagebuch, doch geht es darin vor allem um El Greco. Der Autor gibt sich alle Mühe, dessen wesentliche Rolle in der modernen und für die moderne Kunst hervorzuheben.
So beschreibt Meier-Graefe seine Begegnung mit dem Maler im Prado: Eigentlich ist er nach Madrid gekommen, um Velázquez zu sehen, findet dann aber El Greco, der sich für ihn bald als »richtiger, neuer, gewaltiger Erdteil« neben Michelangelo, Rubens und Rembrandt schiebt. Der Ausnahmekünstler wird hier als einer der größten aller Zeiten gefeiert, weil er sämtliche Gestaltungsmerkmale der Moderne vorweggenommen habe.
Im Almanach »Der Blaue Reiter« dankt auch Franz Marc für diese Erweckung: »Meier-Graefe kam auf den Gedanken, seinen Landsleuten die wunderbare Ideenwelt eines ihnen ganz unbekannten großen Meisters zu schenken«, so schreibt er. Und stellt El Greco später zusammen mit Cézanne an den Beginn einer neuen Epoche in der Malerei. »Beide fühlten im Weltbild die mystisch-innerliche Konstruktion, die das große Problem der heutigen Generation ist.«
Ist El Greco zuvor, wenn überhaupt, dann in Zusammenhang mit dem französischen Impressionismus gesehen worden, so rückt seine Rezeption nun ganz nah heran an den jungen Expressionismus. Wo sich der Alte Meister sicher wohl gefühlt hätte mit seinen ausdrucksgeladenen Kompositionen.
Als Meier-Graefe vor gut hundert Jahren auf Entdeckungsreise durch den Prado streift, erfasst er El Grecos Expressivität etwa in dem eigenartigen, überaus lebendigen Porträt des Juristen Jerónimo de Cevallos, das nun auch in der Düsseldorfer Schau brilliert. Weder Idealisierung noch äußerliche Ähnlichkeit stehen hier im Vordergrund. Vielmehr geht es um den Charakter des Ehrenmannes, den El Greco mit dem Pinsel virtuos herausarbeitet. Feinfühlig mit dünner Farbe im Gesicht, das auch wegen der beiden unterschiedlichen Augen nicht schön, aber dafür leibhaftig wirkt und im Kontrast zum pastosen Weiß der modischen Halskrause noch mehr Eindruck macht.
Die Ausstellung scheidet Alt und Neu, indem sie die Schauwände im Inneren El Greco vorbehält und die umgebenden für die Maler der Modernen reserviert. Es wird also nichts vermischt, doch überall der Blick auf die klassisch modernen Reflexe offen gehalten. Auf Oskar Kokoschkas düstere Porträts etwa. Auf Ludwig Meidners apokalyptische Weltlandschaften, die wie beim Spanier zum Spiegel seelischer Befindlichkeiten werden. Auf Max Beckmanns religiöse Bilder, allen voran die »Kreuzabnahme«, wo sich Eigenheiten des spanischen Manieristen mit Stilmerkmalen der Gotik mischen.
Oder auch auf die »Kreuzigung« des jungen Max Ernst, den die Greco-Manie offenbar auch schwer erwischt hatte. Davon zeugen hier die lang gestreckten Figuren im Vordergrund, die Stadtlandschaft mit Kathedrale dahinter und der unter den Malern seinerzeit offenbar sehr beliebte, geheimnisvoll blau-schwarze Nachthimmel, an dem leuchtend weiß die Wolkenstreifen ziehen.
Unter den Modernen der Ausstellung im Museum Kunstpalast sind Künstler, die sich nachweislich mit El Greco beschäftigt haben. Aber auch solche, bei denen man den Einfluss ahnt oder Ähnlichkeiten ausmacht. Wie Wilhelm Lehmbruck, der just in den Jahren der größten Greco-Euphorie zu seinen überlängten, vergeistigten Figuren findet.
Hat er El Greco im Original gekannt? Sich mit ihm auseinandergesetzt? Egal. Es ist der Zeitgeist, der El Greco findet, versteht, verehrt. Und es scheint erstaunlich genug, dass man sich über 300 Jahre hinweg offensichtlich so verbunden gefühlt hat.
Bis 12. August 2012. Museum Kunst Palast, Düsseldorf. Tel.: 0211/8996211. www.smkp.de