Kein Stillleben, vielmehr ein Unruhe-Leben. Verlorene Schuhe im Paar oder vereinzelt, in der Gosse, auf dem Pflaster, irgendwo auf Straßen liegend. Hinterlassenschaften von Menschen, die eilends fortmussten. Wir denken an die Berge von Schuhen in den Arsenalen der Lager. Mit solchen subjektiven Bildern beginnt Dominik Grafs »Jeder schreibt für sich allein«, dessen Titel den Roman von Hans Fallada über das Ehepaar Quangel abwandelt, das auf seine bescheidene Weise Widerstand leistete, Postkarten mit der Wahrheit über Hitler und den Krieg verfasste, sie in etlichen Briefkästen verteilte und dafür mit dem Tode bestraft wurde.
Zu Anfang bringt Graf auch Material bei zu Rorschach-Tests und psychiatrischen Erkenntnissen über die Persönlichkeit der in Nürnberg angeklagten und verurteilten Nazi-Größen wie Hermann Göring. Lässt sich das Böse im Menschen dingfest machen, nachweisen, wissenschaftlich ergründen?
Vom Turm der Potsdamer Garnisonskirche erklingt als Glockenspiel »Üb immer Treu und Redlichkeit«. Preußisches Motto und pervertierte Tugend-Melodie. Recht oder Unrecht – mein Land. Graf beschäftigt sich collage- und bildhaft, assoziativ und gerade darin Sinn stiftend mit Schriftstellern, die nicht ins Exil geflohen oder emigriert, sondern in Deutschland geblieben sind. Nicht alle braun eingefärbt und infiziert, sondern zunächst womöglich im Ungewissen und mit sich im Unreinen, dann mitlaufend, sich tarnend, anbiedernd, zurückziehend, überlebend und sogar in der Wehrmacht Schutz suchend wie Gottfried Benn.
Grafs Begleiter ist Anatol Regnier, auf dessen Buch und Recherche die Filmdokumentation basiert. Regnier – 1945 geboren als Sohn von Pamela Wedekind und Charles Regnier, Enkel von Frank Wedekind, Gitarrist, Musiker, Autor, zeitweise nach Australien ausgewandert – will nicht aus der Rückschau mit unserem Wissen, sondern aus der damaligen Wirklichkeit der dreißiger Jahre Mentalität, Psyche und Deformationen erfassen. Er steigt ins Archiv der Erinnerung, der Nachlässe, biografischen Dokumente, literarischen Fundstücke.
Im Hotelzimmer von Klaus Mann
Prominentester Dichter ist der die deutsche Gegenrevolution vehement begrüßende, antiintellektuell und biologistisch argumentierende, bald aber vom NS-Staat tief enttäuschte und von ihm brüsk abgewiesene Gottfried Benn. Klaus Mann, ältester Sohn von Thomas Mann, veröffentlichte 1933 einen an den von ihm vormals bewunderten Benn gerichteten Brief, fassungslos angesichts dessen antigeistiger und verblendeter Position. Und auch wir sind es noch, wenn wir seine tiefgefrorene und geklärte Lyrik hören. Kaum verwundert, aber erschrocken, wie leichthin die frühe Bundesrepublik den Büchner-Preisträger von 1951 zu ehren bereit war. Vergeben und vergessen.
Regnier / Graf ziehen den großen Rahmen auf, seit die Preußische Akademie der Künste am Pariser Platz 4 mit ihren Sektionen u.a. für Dichtkunst, Kunst und Musik gleichgeschaltet wird. Max Liebermann, Heinrich und Thomas Mann, Käthe Kollwitz gehören zu den Ausgestoßenen. Am französischen Exilort Sanary-sur-Mer lassen sie sich Zimmer 17 im Hotel de la Tour zeigen, das Klaus Mann bezogen hatte. Sie sprechen mit Zeitzeugen wie dem Kulturmanager Christoph Stölz und dem überaus nachdenklichen und reflektierten Filmproduzenten Günter Rohrbach, spüren dem damaligen Zeit- und Weltgeist nach, sind auf Differenzierung aus.
Ein Riss zieht sich nach 1945 durch die Literatur: die Kontroverse um die Gebliebenen und die Gegangenen bzw. Vertriebenen. Exemplarisch repräsentiert einerseits durch den unversöhnlichen, nicht zurückkehrenden, sondern von den USA in die Schweiz übersiedelnden Thomas Mann (»Wo ich bin, ist Deutschland«), zum anderen durch die Vertreter einer behaupteten »Inneren Emigration« (Frank Thieß). Wer ist der wahre Patriot, wo stößt der Begriff an den des Nationalisten und stößt sich von ihm ab?
Fragen statt Urteilen
Graf fragt lieber, statt zu urteilen (befragt sich auch selbst, wie er selbst wohl sich verhalten haben würde). Es ist diese verschattete Grauzone, die der Film zu beleuchten unternimmt. Nicht alle Rätsel, nicht alle Ambivalenzen und Widersprüche, nicht die Gefangenschaft des Einzelnen in sich und mit sich selbst lassen sich auflösen. Nicht jede Lücke ist zu schließen.
Wie das Beispiel Erich Kästner zeigt, der während der zwölf Jahre zu seinem eigenen Doppelgänger zu werden scheint. Der Autor des skeptischen, scheiternden Moralisten und Berliners »Fabian«, mit dem kein Staat zu machen ist, der »das Elend der Welt« erkennt und dessen Roman Dominik Graf 2018 verfilmt hat, sieht zu, wie seine Bücher verbrannt werden. Er darf nicht mehr publizieren, aber will nicht »draußen« sein; er verfasst Drehbücher wie zum berühmten »Münchhausen«-Film, der wiederum frappierend melancholische, antimachiavellistische Züge trägt. Von Kästners »depressivem Trotz« spricht Florian Illies, dessen Buch »Liebe in Zeiten des Hasses« viele Skizzen und Episoden zu Kästner enthält.
Ein weiterer Fall: Jochen Klepper, der gut lutherische Pastorensohn, Autor von »Der Vater« über den Soldatenkönig und Erzeuger von Friedrich dem Großen, Ehemann einer Jüdin und brave Soldat, der wegen seiner Mischehe 1941 aus der Wehrmacht entfernt wird. Das Ehepaar Klepper und die Tochter wählen gemeinsam die »Sünde« Suizid, indem sie in ihrer Wohnung das Gas aufdrehen.
Und noch einer: Hans Fallada, der sich ab 1933 in den hinteren Winkel von Mecklenburg zurückzieht. Früh eine gescheiterte Existenz, in späten Jahren desolat in seinen Beziehungen, Morphinist und Trinker, wurde er wie im Schaffensrausch zum enorm erfolgreichen Romanschriftsteller (»Kleiner Mann, was nun?»). Beileibe kein Nazi, scheint er sich dennoch bereit erklärt zu haben, einen antisemitischen Propagandaroman zu verfassen, der allerdings nie fertig gestellt worden und erschienen ist.
Die knapp dreistündige Revue der Schicksale geht gebrochenen Biografien nach wie u.a. noch der von Ina Seidel und solchen, die sich wenig krümmen, eher schnurstracks ins NS-System hineinlaufen wie die des üblen Chefideologen, das Heroische feiernden Hanns Johst; wie die des abscheulichen Verbrechers und SA-Brigadeführers Hans Zöberlein (»Der Glaube an Deutschland«), der noch zwei Tage vor der Befreiung durch die Amerikaner in einem Dorf an einem Massaker der Einwohner beteiligt war; wie die von Will Vesper (»Das harte Geschlecht«), dem »Zerberus der Weltanschauungen« (Regnier). Sein Sohn Bernward Vesper, Autor von »Die Reise«, Gefährte von Gudrun Ensslin, wird zum ratlosen Rebellen und wütenden Hasser der Vätergeneration – und stirbt jung von eigener Hand. Todesmale. Erbschaften und Erblasten, so oder so. Sie sind noch nicht aufgezehrt und nicht abgetragen.
Dominik Grafs und Anatol Regniers Film schärft die Wahrnehmung über das Gestern für heute und morgen.
»Jeder schreibt für sich allein«, Regie: Dominik Graf (Co-Regie: Felix von Boehm), D 2023, 167 Min., Start: 24. August