Doris Konradis Roman über »Frauen und Söhne«
Pfeilschnell schießt der Wagen den Anstieg hinauf. Eine solch rasante Fahrt wurde vom Bergdorf aus schon lange nicht mehr beobachtet. Cosima hat es eilig, sie flieht vor Ruben, ihrem Sohn, vor sich selbst und vor dem, was in der zurückliegenden Nacht geschehen ist. Es ist lange her, dass sie in dem kleinen Dorf gewesen ist, auf das sie, wie aus der Vergangenheit geschleudert, zusteuert. Dort oben, wo gerade Platz für die Zukunft gemacht wird. Um das Schulhaus zu erweitern, wurden die Gräber des angrenzenden Friedhofs eingeebnet. Die Arbeit mit den Toten haben hier aber nicht die Männer, die die Umbettung vornehmen müssen. Vielmehr ist es eine Frau, deren Erinnerung sich nicht einfach per Gemeinderatsabstimmung planieren lässt. Die alte Reni, die einst den Gasthof führte, in den Cosima sich einquartiert hat, hat hier ihren Sohn Beat zu Grabe getragen. Er ist vor Jahren bei einem tragischen Unfall umgekommen und geistert immer wieder durch die Gespräche der Dorfbewohner. Über die Umstände des Todes schweigt sich Doris Konradis zweiter Roman »Frauen und Söhne« zunächst aus. Allein, dass Cosima mit dem Tod zu tun haben könnte, lässt sich aus Andeutungen erahnen.
Wie schon in ihrem Debüt »Fehlt denn jemand «, setzt die in Köln lebende Schriftstellerin auch »Frauen und Söhne« aus einer Vielzahl von Geschichten zusammen, die sie mehr und mehr miteinander verwebt, ohne dass die virtuose Verknüpfung der Kapitel Selbstzweck ist. Denn das, was Konradi vielstimmig und perspektivisch gebrochen erzählt, ist ein Gespinst aus Versionen und Varianten; eine Geschichte, deren Wahrheit im Gefühl liegt. Ein Puzzle, von dem jeder der Bewohner ein paar Teile besitzt, das sich in Gänze aber nicht mehr zusammensetzen lässt. In dessen Zentrum bewegen sich Reni und Cosima wie in einem Duell aufeinander zu. Zwei Frauen, deren ältere ihren Sohn verloren hat, während die jüngere dem ihren zu nahe gekommen ist. Es ist eine einseitige Verabredung zwischen den beiden, denn von dem Tod Beats, der Reni nicht loslässt, weiß Cosima, die Fremde, nichts.
Um die beiden Frauen webt Konradi das Beziehungsgeflecht der Dorfgemeinschaft, Traumata und Sehnsüchte. Vielleicht verkörpert keiner die Mischform aus beidem so sehr wie der gehbehinderte Adrian, der, 50 Jahre alt, noch immer bei seiner Mutter lebt. Seit seiner Kinderlähmung zählt Adrian sein gleichförmiges Leben in Sekunden ab, geht einmal in der Woche zur »Madame« und sieht in jedem sich von Ferne dem Dorf nähernden Wagen seine Chance, so darin nur eine Frau sitzt. Auch er hatte sich einst in Cosima verliebt. Doch wie die erste, Jahre zurückliegende Annäherung an Cosima, endet auch der erneute Versuch in einem mühsam kontrollierten Nötigungsversuch. Unbewältigte Geschichte hat die Tendenz, sich einfach nur zu wiederholen. »Reicht es nicht, den Bauplan zu verstehen, die Ordnung?«, fragt Cosima Enrique, den Vater ihres Sohnes, um die Schönheit der Musik zu begreifen. »Das ist der Körper, aber die Seele ist die Musikalität«, erwidert Enrique. Das gilt auch für Konradis Roman. Nicht allein die bemerkenswerte Architektur macht den Reiz von »Frauen und Söhne« aus, sondern mehr noch das, was in ihr verborgen liegt. Diesem Buch wohnt ein nicht aufzulösendes Geheimnis inne, verwahrt auch in der Lakonie, mit der Konradi ihre Figuren zeichnet. So wie die Abwesenheit ihres verstorbenen Sohns Reni gefangen hält, entfaltet der Roman seinen Sog durch die souveräne Kunst der Aussparung. Am Ende liegt zwar klar zutage, was einst in dem Dorf passiert ist, aufgeklärt wie in einem Kriminalroman, mit dessen Versatzstükken Konradi spielt. Doch in der Auflösung liegt mitnichten das Ziel von »Frauen und Söhne«. Eher schon in den Verwicklungen von Leben, die ihren Sinn im Verlust finden müssen. //
Doris Konradi: Frauen und Söhne Tisch 7, 254 S., 19,50 Euro