Nimmt man seinen Animationsfilm »Isle of Dogs – Ataris Reise« als Kuriosum aus, wobei im Grunde alle Filme von Wes Anderson Kuriosa darstellen, ist es eine ganze Weile her, nämlich sieben Jahre seit »Grand Budapest Hotel«, dass der Texaner etwas Neues herzuzeigen hat.
»The French Dispatch« heißt sein Film und heißt der europäische Ableger der Zeitung Liberty, Kansas Evening Star. Die Redaktion befindet sich in der (fiktiven) französischen Stadt Ennui-sur-Blasé. Dass sie Paris nicht unähnlich sieht, über ein seltsam unübersichtliches Métro-Netz verfügt und befahren wird von vielen Citroëns, mag kaum wunderlich erscheinen. Drehort war übrigens Angoulême, der Ort, der ein internationales Comic-Festival ausrichtet, was wiederum für Wes Anderson bezeichnend ist, zumal sein Spielfilm unversehens arretieren und in einen Zeichentrickfilm hineinrutschen kann.
Der Zeitungsverleger und Magazin-Gründer Arthur Howitzer Jr. (Bill Murray) hat 50 Jahre lang den Verlag geleitet – und ist verstorben. Aber wer geschrieben hat, ist nicht tot: Howitzer lebt in seinen Geschichten, die seine Zeitung veröffentlichte und von denen einige hier filmisch reanimiert werden. Das Gewimmel der Redaktion ist ein Hauptakteur des Films – gewissermaßen dem Setzkastenprinzip folgend – und angelehnt an den legendären New Yorker und seine Pendants auf dem alten Kontinent und in Old England. Etwas Antiquiertes und Traditionsbewusstes, trotz sprühender und spleeniger Modernität und postmoderner Brüchigkeits-Fanatik, haftet Wes Anderson-Filmen immer an.
Der im Gefängnis sitzende irre Maler Moses Rosenthaler (Benicio del Toro) findet in seiner Wärterin Simone (Lea Seydoux) Muse und Model und die Kunstkritikerin J.K.L. Berensen (Tilda Swinton) die Gedanken dazu. Die 68er-Generation bietet mit der Reporterin Lucinda Krementz (Frances McDormand), dem Jung-Revoluzzer Zeffirelli (Timothée Chalamet) und einer Dritten (Lyna Khodri) ein Trio auf. Der Sohn eines Kommissars (Mathieu Amalric) wird entführt und nur ein Detektiv-Koch kann ihn retten.
Wes Anderson, Liebling der Kosslick-Berlinale, überhaupt aller Filmfestivals und cineastischen Nerds, ist ein Kind: Was lässt sich über einen Künstler Schöneres – und Wahreres – sagen! Kinder, wenn sie sich langweilen (aber wann langweilen sich Kinder schon, hält ihre Fantasie ihnen nicht immer ein Erlebnis, ein Abenteuer bereit?), erfinden sich eine Welt. Ennui und Blasiertheit sind ihnen fremd.
Kulturelles Erbe darf auch nach Pop klingen
Der Slapstick, in den die Episoden sich verrennen, ist Ausdruck für die Undurchsichtigkeit der Welt und eine Möglichkeit, ihr zu begegnen und sie zu überwinden. Das geht nicht ohne einen gewissen ernsthaften Hang zur Verbesserung der Lebensverhältnisse ab. Die Kunst, gar in ihrer Überbietungsform der Parodie, bietet dafür beste Voraussetzungen und ist zugleich ihr gültiges Resultat, zuvörderst womöglich die Filmkunst und das literarische und journalistische Schreiben.
Wes Anderson ist aus dem US-Bundesstaat, dem auch Bob Wilson entstammt. Texas als geistige Lebensform bringt offenbar nicht nur Erdöl hervor. »The French Dispatch« ist im Besonderen Hommage an den italienischen Neorealismus eines Vittorio de Sica, an die gloriose Ära des französischen poetischen Kinos von Jean Renoir und Marcel Carné und an die Nouvelle Vague um Truffaut und das enfant terrible Godard. Dazu Ehrenbezeugung für die amerikanische Tradition des kreativen Schreibens mit vielen, vielen Namen, von denen uns Truman Capote, James Baldwin und Tennessee Williams die klingendsten sind.
Kulturelles Erbe muss nicht mit Sonntagsreden-Duktus vorgetragen werden. Es darf auch nach Pop klingen und jazzig. Der fiktive Chanson-Sänger Tip-Top leiht sich bei Anderson die Stimme des authentischen Jarvis Cocker, der parallel ein Album aufgenommen hat namens »Chansons d’Ennui Tip-Top«. Wenn der Zuschauer und Zuhörer dabei Serge Gainsbourg, Aznavour oder Montand und weitere Poeten der petite phrase mithört, so gehört dies mit in das berückende und beglückende Sammelsurium, mit dem Wes Anderson die Manier der barocken Wunder-Kunstkammern in seine Spätwelt überführt.
»The French Dispatch«, Regie: Wes Anderson, USA 2021, 108 Min., Start: 21. Oktober