TEXT: STEFANIE STADEL
Da hängt er ganz allein in dunklem Blau. Dramatisch beleuchtet wirft sein mächtiges Eichenholzkreuz Schatten an die kräftig farbige Wand des kleinen Raumes, der sich über zwei Stockwerke in die Höhe streckt. Man muss den Blick schon steil hinauf richten, will man dem Heiland ins Gesicht schauen – seine leeren Augen erkennen und den Mund, der wie im Schmerz erstarrt scheint. So hat man das »Bockhorster Triumphkreuz« gewiss noch nicht gesehen in seiner über 800-jährigen Geschichte. In Münster macht sich das gut 3,50 Metern große Meisterwerk nun gut zum Start des Rundgangs durch rund tausend Jahre – im alten, neuen LWL-Museum für Kunst und Kultur.
Alt bleibt die ursprüngliche Bleibe im Bau von 1908, der Stilelemente der Renaissance zitiert. Neu ist der Anbau. Nachdem der Vorgänger aus den 1970er Jahren restlos entsorgt war, ist er in den vergangenen fünf Jahren nach den Plänen des Berliner Architekten Volker Staab auf dem Terrain zwischen Domplatz und Aegidiimarkt herangewachsen – rund 50 Millionen hat das gekostet. Wobei die Bezeichnung »Anbau« die Sache eigentlich nicht richtig beschreibt. Viel zu bestimmend wirkt der gewaltige Komplex. Mit seiner langgestreckten Sandsteinfassade an der Pferdegasse. Mit dem einladenden Entree zur Rothenburg und mit jenem markanten Keil, der sich kühn dem Dom entgegenschiebt. Selbstbewusst verschafft sich das 21. Jahrhundert Platz inmitten von Münsters kleinteiliger Bilderbuchkulisse.
Obwohl er mit seinen schlichten Formen und den zurückhaltenden Materialien jedes Imponiergehabe von sich weist, versteht Staabs Neubau zu dominieren. Und dies nicht nur mit einer einzigen Schokoladenseite. Anders als sein Vorgänger, der nur vom wenig belebten Domplatz aus zugänglich war, öffnet sich das neue Haus mit einem zweiten Eingang zur lebendigeren Fußgängerzone hin.
Hier stößt man auch auf jenen bereits vielgescholtenen Fauxpas, den sich der Landschaftsverband Westfalen-Lippe geleistet hat: Im Kunstwerk von Otto Piene, das die Fassade ziert, ließ er sich mit seinen Initialen verewigen. LWL ist da nun in großen Lettern zu lesen zwischen den gut 400 Edelstahlkugeln der »Silbernen Frequenz«. Eigens für den alten Neubau hatte Piene dieses Werk einst erdacht, und eigens für Staabs Haus entwarf der Künstler nun seine zeitgemäße Neuauflage: Statt der alten Aluminiumkugeln glänzen andere aus poliertem Edelstahl im nun per Computer gesteuerten Spiel neuer LED-Leuchten.
Wie lässt sich das Alte mit dem Neuen, das Stille mit dem Spektakulären, das Öffentliche mit dem Intimen verbinden? In Staabs Museum für Münster scheinen solche Fragen allgegenwärtig, und es mangelt nicht an guten Antworten. Was bereits Kasper König bei der von ihm initiierten Neugestaltung des Foyers im Kölner Museum Ludwig umtrieb, scheint nun auch in Münster bestimmend: Das Entree wird nicht mehr so sehr als Vorraum gedacht, vielmehr gleicht es einer Passage. Auf dem Weg von der Fußgängerzone zum Dom darf sie jeder nutzen, dabei das »Bockhorster Triumphkreuz« und all die andere Kunst links liegen lassen.
Auf seiner reizvollen Abkürzung durchschreitet der Passant den Patio, blickt zur Rechten in die großen Fenster der Bibliothek und zur Linken ins Restaurant, das seine Tische und Stühle auch ins Freie stellt. Bei Dunkelheit mag er sich dort an einer Videoarbeit erfreuen, die Pipilotti Rist groß und bunt an die weiße Wand wirft: Tanzende Blumen, Wasser, Strand, Lippen und Luftaufnahmen der Stadt Münster mischen sich da. Die sonst eher provokante Schweizer Künstlerin hat dieses vergleichsweise harmlose Werk speziell für diesen Ort gemacht und »Münsteranerin« genannt.
Dann gelangt der Besucher in die Halle – und wird überwältigt sein. Nicht etwa von Kunstwerken, denn die sind hier kaum zu finden. Sondern von der lichten, klaren Eleganz des 14 Meter hohen, glasgedeckten Raumes. Einige Fensteröffnungen und der abgestufte Treppenaufgang wirken wie in den weißen Beton geschnitten. Am Rande erfüllen Shop, Toiletten und Schließfächer ihre Funktion. Alles gratis. Der Vorübergehende verlässt die Halle auf der anderen Seite wieder, durchquert danach einen weiteren Hof und registriert das kontrastreiche Gegenüber: Auf der einen Seite der neogotische Museumsaltbaus und auf der anderen jene kecke Spitze, mit der Staabs Bau zum Domplatz hin ausläuft.
Wer im Museum bleibt, bezahlt und die Treppen zur Kunst erklimmen darf, der bekommt auf dem chronologisch angelegten Parcours durch 51 Ausstellungssäle einiges geboten: Um die 1000 ausgesuchte Stücke – vom mittelalterlichen Triumphkreuz über das fulminante Barockstillleben bis in Nam June Paiks düsteres Mongolenzelt. Hier und da könnte man sich fragen, ob die mitunter recht mutigen Inszenierungen der Kunst nützen. Eines wird man jedoch kaum leugnen können: Die starken Farben, die wechselnden Raumzuschnitte und eine gezielte Lichtregie halten den Besucher in Atem.
Eben hat er den gekonnten Auftritt des »Bockhorster Triumphkreuzes« hinter sich gelassen, da begegnet er im »Soester Antependium« dem ältesten erhaltenen Tafelbild nördlich der Alpen, das ihn wohl noch mehr beeindrucken könnte, hätten ihm Wind und Wetter im 19. Jahrhundert nicht so schwer zugesetzt. Ein paar Schritte weiter wohnt man in der markanten Museumsspitze dem Einzug Christi in Jerusalem bei – die 1516 von Heinrich Brabender geschaffene Figurengruppe aus Sandstein wird dort vor karminroter Wand zur Geltung gebracht. Und könnte der reitende Heiland aus dem Fenster schauen, so blickte er direkt auf den Dom. Ihm zu Füßen sind die überlebensgroßen Gestalten Mariens und der zehn Apostel vom Westportal der Überwasser-Kirche in Münster frei gruppiert – es sieht ganz so aus, als steckten die hochgotischen Figuren mitten im Gespräch.
So lebendig geht es weiter. Auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Renaissance begegnen einem Adam und Eva in Stein gehauen oder gemalt von Lucas Cranach. Später genießt man mit dem Stillleben-Spezialisten Frans Snyders die perfekte Illusion zwischen Pfauenfedern und überquellenden Obstkörben. Während der Kollege Pieter Claesz seine malerische Virtuosität mit Blick auf glänzende Edelmetalle und reflektierendes Glas unter Beweis stellt.
Stark bestückt ist die Moderne. Etwa mit August Macke und Franz Marc, die gemeinsam einen Raum belegen, in dessen Zentrum das gemeinschaftlich gestaltete »Paradies« glänzt. Kaum mehr kann man entscheiden, wem welcher Teil zuzuschreiben ist. In der Gegenwart sorgt Otto Piene für einnehmende Lichteffekte. Besinnliche Töne schlägt dagegen Nam June Paik in seinem »Mongolian Tent« an, das sich bei näherem Hineinschauen als eine Art Mausoleum entpuppt. Den mit 270 Quadratmetern größten Ausstellungsraum für die ständige Sammlung belegen Zeitgenossen – darunter Thomas Ruff mit Beispielen aus seiner Cassini-Serie, die NASA-Aufnahmen vom Saturn wirkungsvoll verfremdet.
Das alles kann man nun nach fünf Jahren wieder bestaunen in Münster, und noch mehr. Ein paar Wochen nach der großen Wiedereröffnung des Museums im September trumpft das Haus nun mit seiner ersten Wechselausstellung in den neuen Räumen auf – und überrascht. Denn was da zu sehen ist, hat kaum etwas zu tun mit der Münsteraner Sammlung – mit Macke, Marc, Piene, Westfalen … Stattdessen gibt man sich offen und holt zur Einweihung lauter fremde Gäste ins Haus, aus dem London der 1950er bis 1980er Jahre.
Mit Malern wie Francis Bacon, Lucian Freud oder David Hockney kommt »das nackte Leben« nach Münster. Aufregend. Wer nun aber meint, dass es sich um eine Ansammlung von Aktdarstellungen handelt, der irrt. Vielmehr geht es in der Schau um das Leben an sich, das diese Künstler – insgesamt sind es 16 – in Landschaften, Porträts, Interieurs und manchmal auch in Bildern mehr oder weniger bekleideter Menschen ansprechen. Kurz: Es geht um eine gegenständliche Malerei, die ihre Motive im Alltag suchte, in der unmittelbaren Beobachtung, und damit zunächst einen Sonderweg einschlug. Denn im Rest der fortschrittlich gesinnten Nachkriegs-Kunstwelt wurde die Figur aus dem Bild verbannt. Wer etwas auf sich hielt, malte abstrakt.
Diesem Trend tritt die Schau entgegen mit William Coldstream etwa. Nach dem Krieg streifte er durch seine Stadt und fasste 1946 die Zerstörung im Bild der »London Bombed Site« ebenso kühl protokollierend in den Blick wie ein paar Jahre später zwei gelangweilte »Female Nudes«. Ebenso entschieden begegnet Freud der allgemeinen Abstraktion. Gnadenlos tastet sein Pinsel den menschlichen Körper ab – registriert jeden Muskel, jede Ader oder Schwellung. Nicht anders verfährt der Maler, wenn er auf einem verwaisten Spielplatz nach unterschiedlichen Texturen fahndet – und sie entdeckt in einem alten Holzzaun, auf rostigem Wellblech, in ein paar Grasbüscheln am Rande.
Weitere Beispiele für das Fortleben der Figuration bieten in Münster Bacon mit seinen permanenten Versuchen, die äußere Erscheinung des Menschen malerisch aufzubrechen. In verzerrten Gliedern, in verschmierten, entstellten, geisterhaft verwischten, gleichsam zerfleischten Gesichtern. Oder auch Leon Kossoff, der seine trüben Farben so reichlich auf der Leinwand verstreicht, dass man erst aus einer gewissen Entfernung Landschaften und Gesichter ausmachen kann in der dicken Paste.
Von einigen Künstlern der Ausstellung hat man hierzulande kaum je gehört. Zu den prominenteren gehören unter anderen jene, die von der Kunstgeschichte in den weiteren Kreis der Pop Art sortiert wurden. Seit Mitte der 50er Jahre in England und in den USA entwickelt und in den 60ern zur prägenden Kunstströmung herangereift, bot sie der Abstraktion Kontra, indem sie die zeitgenössischen Wirklichkeit, den Alltag, in die Kunst holte. Natürlich darf sie nicht unerwähnt bleiben in der Ausstellung – allerdings fällt es schwer, hier klare Grenzen zu erkennen, entsprechend vage hält sich die Schau. Etwa mit Blick auf einen Künstler wie Richard Hamilton, der als »Vater der Pop Art« in England gefeiert wurde, sich selbst aber immer unwohl fühlte mit diesem Etikett.
Was hängenbleibt nach dem Rundgang ist das Bild einer Schar einzelner Künstlerpersönlichkeiten. Denn trotz der gemeinsamen Herkunft, trotz etlicher biografischer Schnittpunkte und trotz der festen Bindung an die Wirklichkeit, die allen gemeinsam ist, lassen sich die 16 nicht als Gruppe oder als Vertreter irgendeiner Strömung fassen. Jeder machte sein eigenes Ding und hielt im großen und ganzen daran fest.
Wenn sich nun die Tür des Wechselausstellungstraktes hinter einem geschlossen hat, bietet Staabs neues Haus die gute Gelegenheit, einen Blick auf »Das nackte Leben« in Münster zu werfen. Durch eines der großen Fenster – direkt auf das etwas in die Jahre gekommene Geschäfts- und Wohnzentrum gegenüber.