»Life can only be understood backwards, but it must be lived forwards«, wird Sören Kierkegaard am Anfang des Kurzfilms »Ars memorativa« zitiert. Ein Jahrhundert kann sich im Bildraffer, von Sound performt und gepusht, in drei Minuten (»Broken Tongue«) abspulen oder kann arretieren an einem zeitgeschichtlichen Moment, wenn das »Eternal Light« flammt und die Ukraine des großen vaterländischen Krieges gedenkt und ein Veteran sich erinnert, wie sich der Dnjepr rot färbte vom Blut der jungen Männer. Der alte Mann am Stock geht mühsam zur Erinnerungsstätte mit der ewigen Flamme und verschwindet im Dunkel der Geschichte.
»Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung« – backwards, weiß ein jüdisches Sprichwort. Eine Erlösung, die durch Qualen geht. Die Erkenntnis trifft für mehr als einen Film und Filmemacher zu, die im Internationalen Wettbewerb der Oberhausener Kurzfilmtage stehen, in denen das Experimentelle überwiegt und Realismus im Fiktiven wie Dokumentarischen überwindet. Das Programm bringt bohrende Bilder, vom Unbewussten hervorgerufen, mit namenlosem Schrecken erfüllt, aus kollektivem Wissen gespeichert, mit analytischer Klarheit gesehen. Vorwärts und der Zukunft zugewandt.
Kierkegaards Losung gilt für Naeem Mohaiemen, gerade auch im Politischen seiner bitteren Recherche »Afsan’s Long Day«. Der Künstler aus Dhaka und New York arbeitet die siebziger Jahre auf und stellt einen Konnex her zwischen der Genese – und dem Selbstverrat – der deutschen Linken und dem mörderischen Konflikt in Pakistan und Bangladesch mit Staatsstreich, Putsch und Gegenrevolte. In Alexander-Kluge-Manier werden Bilder von der Studentenrevolte, vom SPD-Parteitag 1974 mit einer Rede Wehners über die RAF, dem Sartre-Besuch im Stammheim, Baaders Philosophie von »Fucking und Shooting«, der Schleyer-Entführung, dem Deutschen Herbst und der Bleiernen Zeit, dem ersten Rot-Grünen Bündnis in Hessen, Joschka Fischers Wandel und dem Kosovokrieg im Schnelldurchlauf erfasst und theatral collagiert. Um dann zu der für die Dritte Welt virulenten Frage nach Gewalt, Freiheit, Terrorismus und dem Recht auf Widerstand in scharfen Diskurs gebracht zu werden. In dringlichem, schmerzintensivem Ernst verbinden sich historische Analyse mit persönlicher Positionierung und Grundsatzerklärung.
Oberhausen erlaubt dem Jahrgang 2014 raffinierte formale und visuelle Spielereien wie die detektivische Sound-Miniatur »The Tienist One«; wie »Material Conditions« (Erkka Nissinen), in der Animation, Computer-Kunst, Doku- und Musikvideo-Style, Musical-Parodie mit einer singenden Hauptfigur, Gewalt, Slapstick und Comedy der allgemeinen und der männlichen Überforderung sowie der des Künstlers im Besonderen Gestalt geben. Wie »Hermione«, worin die klassische literarische Tagebuch-Form und der Mädchentraum aufgelöst werden in ein kunterbuntes, farbverwischtes Poesiealbum-Format: Biografie – ein melancholisches Spiel entlang von Geburtstagstorten, die das Fortschreiten des Alters dokumentieren und mittels schnell wechselnder Foto-Happenings ein Schicksal aufblättern.
Wie »TaBOGO«, ein anarchisch kreatives, psychedelisch höllisches Marionetten-Spiel, in dem ein Skelett gegen Knochenschwund demonstriert, gebastelt aus Bestecken, Obst, Einwegfeuerzeugen, Blechdosen und diversen Haushaltsgegenständen: Arte povera – die Augsburger Puppenkiste für schlimme Erwachsene. Oder wie das träumerisch schlafversunkene, lyrische Stillleben »A Summer Flu« aus Indien, erlöst von der Pflicht, der Logik des Tages zu gehorchen. Der Blick will nichts objektivieren, sondern bezieht Kraft aus der radikalen Perspektive und stetigen Reflexion. Die Welt ist im Kopf und wird von dort nach außen projiziert und zersetzt sich in Phantom-Partikel.
Gegenüber diesen sprühend fantastischen Filmen stehen spröde, ästhetisch karge Sozial-Recherchen. In »A Packet of Salt« verharrt die Kamera still und beobachtet einen Transport: im Hintergrund Industrie-Gelände, im Vordergrund ein Kanal mit einem Lastkahn. Salz wird verschifft und erreicht einen chemischen Betrieb, wo es weiterverwendet wird. Wir sind in China. Die Farbe des Salzes ist Weiß – aber die Reinheit täuscht. Hier ist alles verseucht durch Natriumsulfat. Als »Sugarcoated Arsenic« – überzuckertes Gift – bezeichnet eine Dozentin die Situation der Farbigen (»legal Apartheid«) an der Universität von Virginia während der 1970er Jahre, begleitet von historischem Fotomaterial.
Rosenblüten wiegen sacht im Wind vor blauem Himmel. Ohio ist künstlich schön in »A Million Miles away« (Jennifer Reeder). Schülerinnen stehen im Schatten junger Mädchenblüte und im kritischen Alter, in dem der Sex auf einmal Gespräche und Gedanken beherrscht, wobei es leichter sein kann, sie jemandem wie E.T. anzuvertrauen oder sie in den Äther zu twittern. Ein rot gemaltes Herz bewegt sich magisch über die Leinwand und bleibt im Brustpelz eines Bären hängen, der eine Kaffeetasse als Design schmückt. In ihrem Tagebuch notiert die Musiklehrerin Crystal Chambers ihre privaten erotischen Umstände. Gus Van Sant dreht solche Coming-of-Age-Filme, etwa »Paranoid Park«, die lineare Erzählstruktur zugunsten subjektiver Bewusstseinsströme frei lassen, der Assoziation folgen und Impressionen ausmalen. Die Kamera hier erfasst jeden Pickel, jeden Wimpernschlag der Kaugummi kauenden, Lollys lutschenden, flüsternden Lo-Li-Tas, um ihn wie Nabokovs Humbert Humbert zu dehnen, während die Irritation der Musiklehrerin in ihrem Pullover mit dem gestickten Katzenkopf und glühend gelben Augen gegenüber dem massiven Chor der Mädchen wächst, bis sie von deren »Geheimsprache« und Codes profitiert.
Zuerst sagt einer noch, es sei lustig, ein Gangster zu sein, man gewinne Respekt. Aber sein Gesichtsausdruck sagt etwas anderes. Karrieren wie seine enden im Gefängnis, dessen eng bedrängende Zellen-Umrisse in einem Studio auf dem Boden weiß markiert werden, wie bei Lars von Trier die Ausmessung seines »Dogville«: ein Lehrstück also – »A History of Violence« aus Südafrika, inszeniert auf einem Bühnen-Spielfeld. »Gangster Backstage« (Teboho Edkins) nimmt sich einige Personen, Delinquenten und Experten des Todes und Tötens, zur Befragung für den möglichst authentischen Dreh eines ganz anderen Gangsterfilms: zum Zwecke der Läuterung seines Publikums. »Was du tust, kommt zu dir zurück«, ist die schlichte, aber unbezweifelbare Moral, die einer der Befragten formuliert. Das Morden führt dazu, dass der Tod ihre Gedanken und Träume beherrscht und ihr Leben unfrei, stupide und mürbe sein lässt. Gangster-Mythen sehen im Kino sonst anders aus.
Ein Mann und eine Frau – das ist, wovon das Kino naturgemäß auch erzählt. Womit es von sich selbst erzählt, denn einer mysteriös schönen Definition zufolge ist das Kino eine Frau. Das ist die ganze Geschichte, Stoff fürs Leben. »L’amour Sauvage« (zu recht eingeladen in den Deutschen und in den Internationalen Wettbewerb) von Lior Shamriz, der in Aschkelon 1978 geboren wurde und zur Zeit in Berlin lebt, ist ein Melodram ohne ausgesprochenes Drama. Der Ton ist abgedreht, das Leiden stumm. Aber man versteht doch alles. Er (Alessio Bonaccorsi), äußerlich beinahe ein Nachfahr von Max Schreck, dem legendären Nosferatu, sieht aus wie eine ausgezehrte Bette Davis oder ein Matrose kurz vor dem Schiffsuntergang. Sie (Chloe Griffin) ist jung, schön und »flamboyant«, ausgestattet mit den Gesten einer Diva. Er holt sie am Flughafen ab, sie sitzen in seiner Küche, trinken Kaffee, rauchen. »Eine Liebe, das kostet immer viel«, wusste Fassbinder. Zwei, befangen im fortwährenden Abschied, in einer Haltung des Fortgehens.
Krisen-Situationen. Nackte Körper. Lichter der Großstadt. Wehmut im herbstlichen Laub, auf einem Friedhof, auf einer Parkbank, im leeren Restaurant, auf der Straße, wo sie lange Schatten werfen. »Sie sahen sich an und wussten nicht weiter«, sagt es Erich Kästners »Sachliche Romanze«, und dies bleibt wahr. Einsamer nie als zu zweit. Zwanzig Minuten dauert diese wilde Liebe – es scheint, als währte sie ein Leben lang. Doch dann träumt er – nach einer Schwarzblende – einen wüsten jüdischen Traum in Deutschland: kurz vor der Hinrichtung zu stehen, seiner Erschießung, im Lager mit einer Gruppe nackter Gefangener im Schnee und mit brutal-zärtlichen Wächtern in Leder. Ein Schuss zielt auf ihn, ein Kondensstreifen zieht durch den Himmel. Ende.
Bis 6. Mai 2014, Lichtburg Oberhausen. www.kurzfilmtage.de