Die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux setzt ihrem Roman »Eine Frau« ein Motto von Hegel voran: »Wenn man sagt, dass der Widerspruch nicht denkbar sei, so ist er vielmehr im Schmerz des Lebendigen sogar eine wirkliche Existenz.« Entlang dieses beim ersten Überlegen komplizierten Gedankengangs wird das Spannungsverhältnis zwischen dem Undenkbaren und dem Möglichen und Tatsächlichen, banal gesagt: zwischen Theorie und Praxis abgewogen. Die Romanadaption »Menschliche Dinge« von Yvan Attal macht diesen »Widerspruch« konkret und verdichtet ihn: zum Familiendrama, Beziehungsgeflecht, Kriminal- und Gerichtsfall, Diskurs-Konstrukt. Umspielt werden Auswirkungen libertinärer Erziehung, während elterliche Ehen und Beziehungen auseinander gehen und Affären auflodern und verrauchen, und sexueller Omnipräsenz ebenso wie Strategien der Me-too-Bewegung, wenn etwa Zitate von Bataille über männliche Machtfantasien und die dunkle Macht des Begehrens in Haft genommen werden.
Der 22-jährige Alexandre Farel (Ben Attal), Sohn eines prominenten Fernsehjournalisten (Pierre Arditi), soll die minderjährige Mila Wizman (Suzanne Jouannet) vergewaltigt haben, Tochter des Lebensgefährten seiner von seinem Vater getrennt lebenden Mutter Claire. Wie geht eine engagierte Feministin wie diese Claire (Charlotte Gainsbourg) damit um, dass ihr Sohn womöglich der jungen Frau Gewalt angetan hat? Zuvor haben wir sie bei einer Diskussion erlebt, in der sie ablehnt, Migranten nicht als Täter zu benennen, um ja nicht der politischen Rechten und rassistischen Parolen in die Hände zu spielen. Die Diskrepanz zwischen ihrem politischen Eintreten als öffentliche Person und der persönlichen Parteinahme ist der Nukleus der Geschichte. Es kommt zur Gerichtsverhandlung mit psychologischen Gutachten, Diagnosen, Analysen und Plädoyers, Für und Wider.
Der Film verfolgt zuerst Alexandres Perspektive und konzentriert sich auf ihn (»Er«), nimmt dann »Sie« in den Blick, die in einem streng religiösen jüdischen Elternhaus aufgewachsen ist, was noch einen Vorhang aufzieht, hinter dem allerdings kein weiteres großes Thema zur Darstellung kommt. Schließlich richtet sich der Blick auf die nächtliche Situation, in der während einer Party die behauptete Tat unter Einfluss von Alkohol und Drogen geschieht, ob einvernehmlich oder erzwungen.
Der Film spielt in einer privilegierten Welt von Bildung und Besitz: Zu sehen ist ein Treffen in einem luxuriösen Hotel an der Place Vendôme, dazu das Studium an einer Eliteuniversität in Kalifornien, Hausmusik am Flügel, mediale Prominenz, sich überlegen fühlende, verwöhnte Charaktere. Gehobenes Bürgertum, intellektuelle Elite, die Nachfahren der Mandarine von Paris. In dem Milieu spielt auch Michael Hanekes Thriller »Caché«. Der wiederum lässt in seinen Filmgeschichten immer einen Spalt, durch den Irritation eindringen und sich einrichten kann. Was offen zu Tage liegen scheint, ist letztlich geheimnisvoll und unauflösbar. So auch hier. »Menschliche Dinge« lässt uns allein in der »Grauzone«, die keine klaren Konturen kennt: mit unserem Gewissen, unseren Zweifeln, unserer Empörung, unserer Verlegenheit. ****
»Menschliche Dinge«, Regie: Yvan Attal, F 2022, 135 Min., Start: 3. November