Es ist seit vielen Jahren so, dass das Tanztheater Pina Bausch ungefähr im Mai ein neues Stück herausbringt. Dem Brauch zufolge trägt es zunächst keinen Namen (nur im letzten Jahr gab es eine überraschende Ausnahme) und bekommt später unbemerkt einen meist sehr poetischen. Ebenso lange ist es Gewohnheit, dass das neue Stück in Assoziationen zu einer Gastspielreise der Compagnie entwickelt wird; dieses Mal heißt das fremde Land Indien. Jahr für Jahr entwirft Marion Cito die Kostüme, sehr farbige, sehr elegante und überhaupt sehr schöne. Jahr für Jahr erfindet Peter Pabst das Bühnenbild, das meist eine ganz eigene, rätselhafte Bildbehauptung aufstellt. Allerdings hat sich Pabst diesmal etwas zurückgehalten und nur im Bühnenhintergrund ein paar Dutzend weiße Stoffbahnen von oben herabgehängt, die im Windmaschinenwind dauerwallen. Aber das bedeutet nur eine geringe Abweichung vom Großen Gleichmaß, das die Stücke der Pina Bausch und die Riten darum herum prägt. Zu diesen Riten gehört auch, dass das Publikum beim Applaus geschlossen aufsteht, dass die Tänzer, die Choreografin in der Mitte, sich gegenseitig die Arme um die Schultern legen und die Ovationen still lächelnd entgegennehmen. Das Tanztheater Pina Bausch ist wie die Christmette, in der auch minder Gläubige sich greifbar erhoben fühlen. Und bei der es selbstverständlich Teil des Hochgefühls ist, dass eine Inszenierung der anderen gleicht.
So beginnt auch dieses Stück mit einem frischen, zugleich wohlvertrauten Bild: Eine Tänzerin in rosafarbener Robe tanzt vor den weißen Stoffbahnen ein wehmütiges Solo, während die Musik – auch dies eine Regel – verlässlich sicher die Balance zwischen Schmelz und Schnelligkeit wahrt. Dann kommen weitere Frauen hereingeschritten – das Schreiten ist ja ebenfalls eine Bausch-Konstante – und arrangieren sich am Boden zu einer bukolischen Szene. Später wiederholt sich dieses Bild, während über die weißen Tücher bunte Projektionen von Palmenhainen gleiten; und dann ist man nah dran an der Bacardi-Werbung. Zuvor aber sind die Frauen, danach auch die Männer, paarweise nebeneinander herein und diagonal über die Bühne nach vorn geschritten, raffend und richtend und knotend die Tücher, die sie hüftabwärts trugen – eine Szene in heiterem Zwiespalt zwischen priesterlichem Ritual und Bademeisterballett. Und die ganze Zeit spielte laut, süffig, rhythmisch und süß: der Elektro-Raga, der World- und Sunset-Pop.
Viele kurze Szenen: von Verführung, Abwehr, Necken; selten von Kampf. Ein Mann zieht Boxhandschuhe an und haut sich selbst
k.o. Ein Mann hüpft sich die Kleider vom Leib. Eine Frau bindet Papierschiffchen an Ballons und lässt sie zur Decke steigen. Zwei Männer, eng umschlungen, rennen rasend schnell im Kreis. Ein Paar öffnet frische Kokosnüsse und trinkt daraus. Währenddessen liegen bunte Stoffe im Kreis. Wir erleben Formationen von akardischer Festlichkeit, von Paares- und Gruppenfreude, alles scheint heiter: hochgestimmt und tief zufrieden. Und auch, wenn zwei Frauen einem Mann die Fußsohlen anbrennen, lächeln alle drei.
Rainer Behr – der Kleine, Kräftige mit der behaarten Brust – tanzt viele Soli; eines ist von dürstender Raserei. Er ist auch einer derjenigen, die sich am Boden um Kleidung raufen: Sie tun es geschmeidig, schließlich ist dies Tanz; aber es wirkt auch hart, weil es mit einmal wie ein Reflex der grausamen indischen Wirklichkeit erscheint. Weniger grausam denn als naturalistischer Stilbruch platzt diese Wirklichkeit dann herein, wenn jemand, am Bildschirm sitzend, Dialoge aus den in Indien weit verbreiteten Call Centers vorspricht; wenn jemand, blau berüsselt, einen Elefanten imitiert; wenn in Großprojektion die Riesengesichter eines Liebespaares aus einer Bollywood-Produktion erscheinen. Das sind nicht unbedingt die Höhepunkte.
Gab es solche überhaupt? Gab es irgendeine Überraschung, etwas, was das Herz einen Augenblick lang schneller schlagen ließ? Schön war der Abend, er hat sehr heiter gemacht. Nächstes Weihnachten gehen wir wieder hin.