// Auf der Bühne des Consol-Theaters in Gelsenkirchen herrscht nüchternes Arbeitslicht. Acht Männer und Frauen unterschiedlichen Alters probieren eine Chorus Line: an dem einen Ende eine kleine, weißhaarige alte Dame, an dem andern ein kräftiger junger Mann. Die Linie, die sie bilden, soll sich wie ein Uhrzeiger um einen Mittelpunkt drehen, das erfordert Koordination, denn je weiter außen jemand läuft, desto schneller muss er sein. Die Linie schwankt und will zerfallen – »Schnipst mal mit den Fingern, das hilft, den gemeinsamen Rhythmus zu finden«, rät Barbara Wachendorff aus dem Zuschauerraum. Sie ist die Regisseurin des Stücks »Suche Arbeit – biete Leben«, das hier am Beginn seiner Probenarbeit steht. Die Spieler schnipsen folgsam, die Reihe schließt sich dichter und kommt auch bald viel besser voran.
»Jetzt etwas schneller!«, bittet Wachendorff. Das Tempo wächst, mit ihm wieder die Lücken. Man merkt, wie die Akteure sich einer hinter dem andern verstecken oder zu sehr mit sich selbst befasst sind, um Kontakt zum Nachbarn und zum Raum zu halten. »Geht Schulter an Schulter. Keinen Bauch machen! Einfach immer weiter. Wie eine kleine Maschine.« Freundlich und bestimmt kommen diese Kommandos aus dem Mund der Regisseurin, unendlich geduldig. Immer wieder springt sie auf, läuft zu den Spielern, richtet hier, macht da etwas vor, zieht endlich einen Kreidekreis auf den Bühnenboden, um der gewünschten Bewegungsfigur eine optische Schiene zu legen. Es sind Laien, die hier proben, und die Theaterarbeit mit Laien ist etwas Besonderes. Besonders mühsam; aber auch besonders bewegend, wenn sie gelingt: mit rauen Ergebnissen, nämlich frei von allen Kunstfertigkeiten professioneller Schauspiel-Routine. Und weil, wie hier, es nicht um Figuren, sondern um »echte« Menschen und ihre authentischen Erlebnisse geht. Wachendorff hat Erfahrung damit: Die gelernte Schauspielerin hat am Schlosstheater Moers Theaterprojekte mit Alten und mit Demenzkranken inszeniert, was ihr 2006 die Nominierung zum deutschen Theaterpreis »Faust« eintrug. Genau die richtige also, um jetzt für das NRW Kultursekretariat Wuppertal »Suche Arbeit …« zu entwickeln, für dessen »Seniorentheater-Plattform«, die seit 2007 im Consol-Theater (auf der ehemaligen Zeche Consolidation) ansässig ist.
Als die Linie sich stabil im Kreise dreht, wird Fred auf die Bühne geholt, ein Mann mittleren Alters, er soll rückwärts mit der rotierenden Front laufen, mal schneller, mal langsamer, mal mit ihr, mal von ihr getrieben, mal im Widerstand, und dabei seinen Text sprechen, den er jetzt noch vom Blatt liest. »Bin ich etwa selbst schuld an meiner Arbeitslosigkeit?«, so geht es los und erzählt dann von einem tragisch-typischen Schicksal, das vom Verlust des Jobs bis zum Verlust jeglicher Lebensstruktur führt. Nein, dies ist keine Chorus Line, die sich da dreht, dies ist das Uhrwerk der Leistungsanforderung, die Tretmühle der Arbeitsgesellschaft, die Menschen aufsaugt, einbaut, kaputt macht, ausspuckt. Darum geht es hier. »Suche Arbeit – biete Leben« zeigt Menschen, die aus dem Arbeitsleben ausgetreten sind und ausgetreten wurden, und Menschen, die demnächst ins Arbeitsleben eintreten. Nur drei hier sind »Senioren«, die andern Jugendliche und ältere Erwachsene, Arbeitende, Arbeitslose, Hartz-IV-Empfänger: Gelsenkirchener aus verschiedenen Kulturen und Herkunftsländern.
Bis auf Wilma, die weißhaarige alte Dame, die früher mal Kabarett in der Gewerkschaft spielte, haben sie alle keinerlei Theatererfahrung. Aber sind bereit, ihre Geschichte zu erzählen, ihr Schicksal und ihren Umgang damit auf der Bühne preiszugeben. Keine leichte Sache. »Man braucht viel Zeit«, sagt Barbara Wachendorff auf ihre ruhige Art. Seit einem Dreivierteljahr bereits arbeitet sie mit ihren 17 Gelsenkirchenern zusammen. »Anfangs spielen die Leute nur ihre Schallplatte ab. Erst wenn sie Vertrauen gewonnen haben, kriegt man die Kostbarkeiten.« Die Kostbarkeiten, die es ermöglichen, ein Leben als individuelles Leben zu zeigen – die Voraussetzung dafür, dass es im nächsten Schritt zu einem allgemeingültigen werden kann. Das ist der Schritt von der Biografie zum Theaterstück. Das ist die Kunst der Regisseurin: »Eine Collage wird es werden. Ich habe ein paar Themenfelder abgegrenzt: ›Arbeit finden‹, ›Kaputt arbeiten‹, ›Mobbing‹ zum Beispiel. Was ich wirklich möchte, ist, dass sich die Zuschauer für diese Menschen da auf der Bühne interessieren.«
Im nächsten Abschnitt der Probe führen ihre Spieler pantomimisch Arbeitstätigkeiten vor – und sofort herrscht eine ganz andere Atmosphäre auf der Bühne. Eine der Frauen steht ganz allein da und macht etwas, was wie das Streichen von Brötchen aussieht, immer wieder diese gleitende Handbewegung, der Griff irgendwohin, der Schubs in die Gegenrichtung. Ihre Ablösung, die nach einigen Minuten kommt, scheint an einer Kasse Waren über den Scanner zu schieben; eine dritte Frau treibt etwas, das man nicht erkennt. Aber das ist gleichgültig, denn was jede und jeder da weniger herzeigt als einfach tut, ist von hoher Konzentration. Hingebungsvoll, so genau in der Bewegung, dass es vollkommen professionell wirkt und stark in seinen Bann zieht. Wachendorff ist ebenso fasziniert davon. »Auch wenn sie eigene Sätze über ihr eigenes Leben sprechen, gelingt ihnen diese Stärke«, schwärmt sie. »Wenn sie spielen sollen, wird es natürlich schwierig.« Immerhin haben alle Akteure während der vielen Monate des Kennenlernens auch Schauspieltraining bekommen, man merkt es daran, wie vergleichsweise schnell eine Situation Dichte bekommt, nachdem sie erklärt wurde und Wachendorff, zurück auf ihren Stuhl fallend: »Uuund – Action!«, gerufen hat. Da sitzen dann sechs Frauen auf dem »Sofa« – heruntergekommenen Bürostühlen –, glotzen ins Nichts, vielleicht in einen Fernseher, und lassen es dann und wann aus sich herausfallen: »Die Fenster müssten mal wieder geputzt werden …« – »Ich sollte mal wieder zum Frisör …« Leider fehlt Gisela, die jetzt eigentlich gegen diese Hartz-IV-Idylle einen dystopischen Text des Soziologen Jeremy Rifkin sprechen müsste. Denn ein gewisses intellektuelles Niveau soll »Suche Arbeit …« schon haben, da ist Dramaturgin Ulrike Czermak vor.
Irgendwann wird das Bühnenbild hinzukommen, eine Straßensituation soll es sein, mit Nischen für intimere Szenen. Im Hintergrund werden Filme laufen, Arbeitssituationen im Ruhrgebiet. Gegen so etwas anzuspielen wird für die tapferen Gelsenkirchener Laien nicht leicht sein. Wird nur gut gehen, wenn es der Regie gelingt, die Akteure ganz nah ans eigene Leben heranzuführen. An Momente wie den, wenn Siegbert, Wilmas Mann, die Decke eines imaginären Zimmers streicht – eine Choreografie von ungewollter meditativer Kraft; gestische Abbreviatur eines Arbeitslebens, deren Echtheit ein Schauspieler nur sehr schwer herstellen könnte.
Premiere von »Suche Arbeit – biete Leben« ist am 19. Februar im Consol-Theater Gelsenkirchen. Tel.: 0209/9 88 22 82; www.consoltheater.de + www.seniorentheater-plattform.de.