TEXT: STEFANIE STADEL
Was ist los mit dem Kerl? Warum hängt er da im Business-Dress am Dachbalken und schaut mit Todesverachtung nach unten? Hat er aufs falsche Investment gesetzt, wird er vom Chef schikaniert, ist ihm gekündigt worden? Man wird es nicht erfahren. Sicher aber scheint, dass er sich dort oben nicht lange halten wird. Schon sieht man ihn vor sich – den Moment, in dem die Kräfte nachlassen, die Finger abrutschen, der Mann zu Boden stürzt. So lebensecht hat Li Wei seinen verzweifelten Durchschnitts-Typen in Gießharz, Acryl und Ölfarben nachgebildet. Für den jungen Künstler aus Peking ist es eine Art Prototyp. Einer für viele.
Li Wei seinerseits ist einer unter zig Kollegen, die drei Dinge einen: Sie kommen aus China, Arbeiten als Künstler und haben eine Einladung zum Mammutprojekt China 8 in der Tasche. Dahinter stecken neun Museen in acht NRW-Städten, die sich zusammengetan haben, die »aktuelle Entwicklung chinesischer Kunst in all ihrer Vielfalt« vorzuführen. Immer wieder heben die Organisatoren auf den »nie dagewesenen Umfang« dieses Unternehmens ab, auf seine weltweit bislang »einmaligen Dimensionen«. Vielleicht nicht zuletzt, um sich herauszuheben aus der Reihe von China-Überblicksausstellungen, die in den letzten 20 Jahren bekannt machen wollten mit aktueller Kunst aus dem »Reich der Mitte«.
Durch mehr als 200 Ateliers sind die Kuratoren von China 8 gestreift, um ihre Auswahl zu treffen. Es stimmt – ihr schlichter Plan geht auf. Vielfalt wird zwischen Düsseldorf, Marl und Hagen tatsächlich vermittelt. Aber nur dem, der sich nicht vorher durch die Masse an Werken wechselnder Qualität entmutigen lässt: Rund 500 Gemälde, Fotos, Filme, Skulpturen, Objekte, Installationen von 120 Künstlern. Viele ihrer Namen hat man nie gehört und wird sie sich für die Zukunft wohl auch schwer einprägen können. Zumal immer nur ein paar Häppchen aus dem Schaffen serviert werden.
Die Reise durch 200 chinesische Ateliers wird an Rhein und Ruhr zur Tour durch die Museumslandschaft und zumindest an Wochenenden durch eifrig hin und her pendelnde Shuttle-Busse erleichtert. Der China 8-Tourist kann sich also ganz darauf konzentrieren, die Menge an Material zu bewältigen. Etwas Halt verspricht ihm dabei die Ordnung nach Sparten: Skulptur findet sich im Duisburger Lehmbruck Museum, etablierte Maler vereint die dortige Küppersmühle. Noch mehr Malerei gibt es in der Kunsthalle Recklinghausen. Das Museum Folkwang in Essen konzentriert sich auf Fotografie, der Glaskasten Marl auf Videokunst. Im Kunstmuseum Gelsenkirchen warten Kaligrafie und Tuschemalerei und im Hagener Osthaus-Museum Objekte und Installationen. Li Wei hat seinen Selbstmörder im Kunstmuseum Mülheim an der Ruhr aufgehängt, wo er umgeben ist von weiteren Skulpturen und Installationen.
Zum Start bietet das Düsseldorfer NRW-Forum einen ersten Eindruck von besagter Vielfalt der aktuellen Kunst in China. Und von den Mega-Formaten, in denen sie sich gern äußert. An einer Wand entlang zieht sich da etwa Huang Mins 16 Meter langes Panorama einer chinesischen Landschaft. Zwar ist es in Öl gemalt, doch könnte es dem Anschein nach auch die traditionelle Tusche sein. Vor dem von Wolken wunderbar umfangenen Gebirge drängen sich Touristen in Jeans, Shorts, bunten Shirts. Zwar sieht man sie nur von hinten, doch sollen es wohl Chinesen sein. So blickt man quasi mit ihnen über die Brüstung – auf ihr Land, auf ihre Kultur.
1996 hat es in der Gegend schon einmal eine große Ausstellung zum Thema gegeben. Unter der Schlagzeile China! beschrieb sie im Kunstmuseum Bonn den Stand der Dinge. Der Initiator hieß damals und heißt heute Walter Smerling, Vorstand der Stiftung Kunst und Kultur in Bonn und Leiter des privaten Museums Küppersmühle in Duisburg. Seine Idee war es, nun – aus der Distanz von bald 20 Jahren – Entwicklungen auszumachen. Welche Ergebnisse zieht er also aus dem Vergleich? Die chinesische Kunstszene, so Smerling, sei im Begriff, eine eigene zeitgenössische Sprache zu entwickeln, die nicht länger dem westlichen Vorbild nachhänge. In den 90ern noch sei oft die amerikanischen Pop Art kopiert worden. Heute bauten die Künstler dagegen stärker auf die eigenen Traditionen. Vielleicht war es ja eben jene Rückbesinnung, die Huang Min im Kopf hatte, als er die schnöde Touristen-Schar vor dem schönen Tusche-Panorama platzierte.
Möchte man Smerlings Idee des 20-Jahre-Sprungs etwas abgewinnen, so ist wohl das Museum Küppersmühle der beste Ort dafür. Denn hier sind einige alte Bekannte anzutreffen. Maler, die während der 90er zum Teil noch im Untergrund wirkten und heute einen festen Platz auf internationalem Kunstparkett besetzten. Zhang Huan zum Beispiel:1965 geboren, machte er vor allem mit seinen frühen Performances Furore. Einmal rasierte er sich dafür an einem heißen Sommertag die Haare ab und rieb seinen ganzen nackten Körper mit Honig und Fischöl ein, um sich derart hergerichtet für eine Stunde in einer stinkenden öffentlichen Toilette niederzulassen. Heute, 20 Jahre später, arbeitet Zhang Huan etwas museumsfreundlicher. So, wenn er Propagandafotos und andere Aufnahmen aus Chinas Geschichte abmalt und dabei die Asche von Räucherwerk aus buddhistischen Tempelanlagen benutzt.
Zum Club der Arrivierten zählt ebenso der 1963 geborene Fang Lijun. Als Maler bediente er den internationalen Kunstmarkt seit den 90ern mit seinen charakteristischen Kahlköpfen – lächelnd oder gähnend, schreiend, schwimmend oder schwebend bevölkerten sie die großen bunten Leinwände. Es war der Anfang einer Erfolgsspirale, die sich für Fang Lijun und andere junge Künstler aus der Volksrepublik schneller und schneller nach oben schraubte. Ein China-Kunst-Boom, der damals immer neue Auktionsrekorde produzierte. Inzwischen hat sich die große Euphorie freilich gelegt. Und Fang Lijun? Der schafft neuerdings Skulpturen aus Porzellan – bekanntlich eine chinesische Erfindung. Im Lehmbruck Museum sind einige berückende Beispiele aufgebaut. Sie gleichen aus unzähligen kleinen Quadern errichteten Gebäuden. Doch scheinen sie völlig instabil. Während das eine noch gerade steht, geraten beim zweiten die Steine schon ins Rutschen. Und das dritte ist nicht mehr zu retten.
Der Abbruch historischer Quartiere, das Zerbrechen von Traditionen in den rasant wachsenden Städten – es sind Themen, die einem wiederholt begegnen. Bei Jiang Jie etwa, die Ziegel alter Häuser sorgsam in rosafarbene Seidentäschchen steckt und in Reih und Glied auf den Fußboden legt. Oder bei Shi Jinsong, der die Bruchstücke seines abgerissenen Ateliers aus Peking nach Duisburg gebracht hat, um sie dort in einer Trümmerlandschaft mit verdorrter Kiefer neu zu beleben.
Solche eher besinnlichen Momente sind mit dem Einstieg in den Foto-Parcours des Essener Folkwang Museums vergessen, wenn auch nur kurz. Im Entree hat das Künstlerkollektiv MA DAHA Wände und Boden komplett mit wirr zusammengewürfelten Bildfunden aus dem Internet tapeziert und irgendwo im Tohuwabohu einen Kühlschrank platziert – die Flaschen darin sind randvoll mit einem selbstgebrauten, knallorangen Erfrischungsgetränk. So also kann chinesische Fotografie heute aussehen – rund dreißig Jahre, nachdem sie sich frei machen konnte von der dienenden Verpflichtung des reinen Propaganda-Mediums.
Dem lustig bunten Start folgt in Essen eine Schau, die mit 24 jüngeren Positionen das – wirklich vielfältige –Spektrum der aktuellen Szene unter Beweis stellt und damit einen Höhepunkt im Reigen der China 8-Ausstellungen liefert. Es gibt viele einfach nur schöne Arbeiten hier. Doch auch an Kritik mangelt es nicht. So kann man in Essen etwa besichtigen, was in China verboten wurde: ein Beispiel aus Wang Qingsongs Werkreihe »Blood of the World«. Die Negative dazu hatte Peking vor einigen Jahren beschlagnahmt.
Von offizieller Seite habe China 8 keinerlei Restriktionen erlebt, so betont Smerling immer wieder. Alle Werke, die man ausgewählt habe, hätten ohne weiteres ausreisen dürfen. Ganz wohl ist einem trotzdem nicht. Jeder weiß um die Unfreiheit, die Künstler dort drückt. So viel ist zu hören von den Repressionen, unter denen sie leiden. Hilft es ihnen, wenn sie hier zeigen dürfen, was daheim im Verborgenen bleiben muss? Profitiert nicht zuerst die Regierung von der Gelegenheit, dem hiesigen Publikum vorzumachen, wie frei und großzügig sie doch mit der Kunst umgehe? Derweil sie im Lande noch vieles im Argen belässt, einem Ai Weiwei etwa die Ausreise verwehrt.
A propos – warum ist dieser prominenteste aller chinesischen Gegenwartskünstler eigentlich nicht dabei, bei China 8. Eingeladen worden sei er durchaus, so heißt es. Und Peking habe keine Einwände gehabt, Werke von ihm außer Landes zu lassen. Doch der Meister habe abgelehnt. Kein Interesse. Vielleicht erging es ihm ja wie Li Wei. Jenem jungen Kollegen, der in Mülheim an der Ruhr den Mann unters Dach gehängt hat, sich im Nachhinein aber ärgert über China 8. »Ich selber mag einen solchen Titel überhaupt nicht«, so äußerte er sich jüngst in einem Interview. »Er bezieht sich auf China, auf die Region«, das entspreche überhaupt nicht seinem eigenen Denken. Denn für ihn komme es ganz losgelöst vom Nationalen darauf an, was für ein Mensch jemand ist. »Sehr fähige und sehr üble Typen gibt es überall. Das ist doch ganz einfach.«
In allen Häusern bis 13. September 2015. Nur im NRW-Forum, Düsseldorf bis 30. August 2015. www.china8.de