TEXT: VOLKER K. BELGHAUS
»Bitte mal rankommen!« Der Mann brüllt in die vorbeihastende Menschenmenge. Man solle »doch mal schauen, gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit!«. Einige Essener Passanten bleiben dann doch stehen, sind kurz irritiert. Wo bleibt denn da die vielbeschworene Gemütlichkeit, wenn jetzt schon auf dem Weihnachtsmarkt von der Seite gekläfft wird? Aber halt: Der Mann gehört gar nicht zu den traditionellen Weihnachtsmarkthändlern, sondern bietet schreiend bunte, wabbelige Backformen aus Silikon an.
Ein paar Meter weiter warten sechs Frauen in roten Schürzen auf ihren Einsatz. Die Bratwürste brutzeln in geometrischer Präzision vor sich hin, auch die mattgelben Kunststoffflaschen mit Senf stehen in mili-tärischer Reihe. Immer noch besser als die umgedrehten Senf- und
Ketchupkanister an anderen Ständen, aus denen man sich die Würz-sauce aus einem kuheuterähnlichen, weichen Plastikfortsatz auf das phosphathaltige Fleisch melken muss. An einem der liebevoll-rustikal mit roten Plastikdecken umtackerten Stehtische lärmen ein paar Männer mittleren Alters; ein Paar, das identische Freizeitjacken und ebensolche Frisuren trägt, kramt umständlich nach Kleingeld.
An der Seitenwand eines Standes wirbt ein Schild für »Klinger’s himmlische Crêpes« mit einer Airbrush-Illustration von Raffaels Putten-Engeln aus der »Sixtinischen Madonna«, daneben informiert ein Zettel darüber, dass man auch am Totensonntag von 18 bis 22 Uhr geöffnet habe. Immerhin. Der übliche Bratwurstgeruch wird kurzzeitig vom Duft dampfenden Dönerfleisches überlagert – eine ältere Fachkraft mit weißer Kopfdeckung rückt dem Spieß bereits mit dem Elektromesser zu Leibe, während der jüngere Kollege ungeschickt und fluchend versucht, mit einem Akkuschrauber eine Preistafel am Häuschen zu befestigen. Die folgende Diskussion in arabischer Sprache versucht mit allen Mitteln, die Geräusche von Elektromesser, Akkuschrauber und zeitgleich anfahrendem Lieferanten-LKW zu übertönen.
Zwei kleine Jungen stehen fasziniert vor den quadratischen Glaskästen des »Insektenmuseums«; einem Stand, der seit Jahrzehnten immer an derselben Stelle zu finden ist. Spinnen, Käfer, Libellen und anderes Kerbtier, aufgespießt und eingerahmt für das heimelige Wohnzimmer, die Vogelspinne kostet 75 Euro. Einer der Jungs zeigt auf eine kleinere Libelle: »Die gibt’s doch auch bei uns, oder, Papa?« Doch der Mann ist abgelenkt und grummelt Unverständliches; der Verkäufer, dessen ergraute Prinz Eisenherz-Frisur an Kinderliedermacher der 70er Jahre erinnert, lächelt gütig und setzt an: »Also…«, aber man ist schon weiter, der Rest geht in der Weihnachtsmarktmusik unter, die aus versteckten Boxen herüber schallt. Klassische Weihnachtslieder sind nicht zu hören. Stattdessen hochtönend-fiepende, keyboardmatschige Panflötenmusik, einsetzbar vermutlich auch zur Hundedressur, wenn die Ultraschallpfeife mal wieder kaputt ist. Darauf folgt Johann Strauß’ Walzer »Rosen aus dem Süden« in einer weihnachtsmarkt- und schunkelkompatiblen Version von drei Minuten dreißig. Im Anschluss perlt Richard Claydermans »Ballade Pour Adeline« aus den Lautsprechern, gefolgt von einer merkwürdig verhaltenen Chor-Coverversion von Abbas »Fernando« und weiterer Fahrstuhlmusik, gegen die James Last als coole Indie-Mucke durchgeht.
»Menschenhandpuppen« steht in Frakturschrift auf einem der Holzhäuser – man erwartet Schlimmes und denkt an das »eiskalte Händchen« der Addams-Family. Halloween war doch erst? Die freundliche Dame hinter dem Tresen verkauft nur harmlos große Handpuppen, die wie Kinder aussehen. An anderer Stelle ist eine Naschbude in schnörkelig-goldigem Jugendstildesign unnötigerweise mit den Wörtern »Fun Food Factory« beschriftet; es riecht nach Blockbusterkino für 12-jährige, nach Nachos und Popcorn. Etwas abseits brennt die Hütte. So scheint es jedenfalls, aber die Qualmwolken hängen nur über den Friteusen, in denen die südamerikanischen gefüllten Rollen aus Kartoffelteig zubereitet werden. Die Schlange ist lang; diejenigen, die schon eine Portion ergattern konnten, kauen vorsichtig – »Heiß!« – oder bekennen mit vollem Mund: »Einmal im Jahr muss das sein, weiße?!« Nur einige Meter entfernt findet sich wohl der traurigste Arbeitsplatz der Saison – eine Frau wartet in einer Hütte darauf, die dreckigen Teller und Löffel zurückzunehmen und den Kunden ihre zwei Euro Pfand auszuzahlen. Sie sitzt dort mit weißer Kittelschürze und gleichgültigem Gesicht, vor sich ein Löffel auf einem Stück Küchenrolle, zum Abkratzen der groben Essensreste. Es ist das letzte Häuschen in der Reihe, ohne aufwendige Giebelbeleuchtung und Tannengrün – danach kommen nur noch ein paar Müllcontainer.
Herz gibt es als entsprechend geformte Lebkuchen, mit Geschenkband zum Umhängen und niedlichen Beschriftungen aus bunter Zuckermasse, die dann im Laufe des Jahres unter der Folie wegbröckelt, bis der Beschenkte das steinhart gewordene Lebkuchenherz irgendwann gnädig entsorgt. Wem die vorgefertigten Sprüche nicht zusagen, der kann einen Lebkuchen-Rohling nach seinen Wünschen gestalten lassen. So steht es jedenfalls poetisch auf einem Schild, das die »Herzen-Hexe«, eine Figur, die stilistisch an die umstrittene neue Statue von Kardinal Hengsbach am Essener Münster erinnert, hochhält: »Wir beschriften Herzen nach Wunsch«.
Heiße, meist alkoholische Getränke bietet der traditionelle Anbieter »Zum armen Ritter«, der direkt mehrere Versorgungspunkte errichtet hat. »Find us on facebook!« steht auf eingeschweißtem, abwaschbarem Marmorpapier. Immerhin: 280 Personen gefällt das. Auch in diesem Jahr ist Glühwein in der Freundschafts-Thermoskanne erhältlich – für 11 Euro der Liter. Am Riesenrad hängt vorsichtshalber ein Schild, dass Betrunkene nicht mitfahren dürfen. Für Menschen, die es etwas experimenteller mögen, gibt es an anderer Stelle Glühbier. Hier wird aber kein Kasten Krombacher auf den Grill gestellt; Grundlage ist ein speziell hergestelltes Kirschbier. Könnte ganz gut zur »Christmas-Currywurst« passen, die nebenan angeboten wird und rein äußerlich keine speziellen Merkmale aufweist. Wahrscheinlich gibt es eine besondere Würzmischung im Fleisch – hoffentlich kein Weihrauch, auch wenn der Dom nah ist.
Was wie das Jahrestreffen für »Herr der Ringe«-Fans anmutet, ist der mittelalterliche Teil des Weihnachtsmarktes. Kuttenkostümierte Händler warten auf Kundschaft, es riecht nach frisch gebackenem Brot; der Glühwein heißt hier Met. Anstrengende, mittelalterliche Weisen beschallen die Szene. Feuerkörbe ersetzen blinkende Lichtreklamen, die Wurst ist aus Wildschwein und einen halben Meter lang. Wollene Kleidung statt greller Kindershirts mit Aufschriften wie »Der Teufel trägt Pampers« oder »ABI 2028«.
Später dann in den Nachrichten: Die Briten stehen dermaßen auf den deutschen Weihnachtsmarkt, dass sie ihn kurzerhand kopiert haben, beispielsweise in Birmingham. Mit denselben Buden, deutschem Personal und deutscher Beschilderung. Eine Mischung aus Folklore und Oktoberfest, das Bier wird konsequenterweise in Maß-Krügen ausgeschenkt. Einziges Problem: Für britische Zungen ist das Bier einfach nicht warm genug.