Text Sascha Westphal
Zum Ende hin kippt noch einmal alles. Bis dahin hatten Isa Weiß, Lilly Gropper und Claudia Frost drei türkische Frauen namens Ayşe gespielt, die in den 1960er Jahren nach Deutschland gekommen sind, um hier zu arbeiten. Es waren die Geschichten der ersten Einwanderer-Generation, die Tuğsal Moğul in seinem am Theater Münster entstandenen Rechercheprojekt »Die deutsche Ayşe« zu exemplarischen Lebensläufen verdichtet hat. Doch zum Schluss treten die Schauspielerinnen aus ihren Rollen heraus. Die Bedingungen haben sich geändert. Sie werden wieder zu Isa, Lilly und Claudia und brechen ihrerseits selbst auf, um in der Türkei ihr Glück zu suchen. Für diesen Moment, der den Beginn des Stücks wiederholt und spiegelt, haben die drei Türkisch gelernt.
Solche Momente faszinieren den 1969 in Neubeckum geborenen Deutschtürken Tuğsal Moğul. Mit einmal wird aus der Recherche über das Leben der ersten türkischen Einwanderer ein Gedankenspiel, dem man sich nicht mehr einfach entziehen kann. Nun ist das Publikum am Zug. Die Fragen, die diese Umkehrung der Verhältnisse provoziert, bleiben auf der Bühne unbeantwortet. So muss es in Moğuls Augen sein. Über »Der goldene Schnitt«, seine neueste Arbeit, die am Schauspiel Dortmund uraufgeführt wird, sagt der Schauspieler, Regisseur und Autor, der zugleich Facharzt für Anästhesie ist: »Es ist mein Ziel, beide Seiten zu beleuchten, so dass der Zuschauer die Meinung, die er sicher schon vorher hat, vielleicht noch einmal überdenkt.«
Vor vier Jahren waren die im Islam und im Judentum üblichen rituellen Beschneidungen von Jungen ein großes Medienthema. Nachdem das Kölner Landgericht mit einem Urteil, in dem die Beschneidung als Körperverletzung definiert wurde, den Schutz von Kindern über die Religionsfreiheit gestellt hatte, begann eine vehement geführte Diskussion, ob der Islam zu Deutschland gehöre. Mittlerweile dominieren andere Fragen die Öffentlichkeit.
Aber Tuğsal Moğul, der »als Muslim und als Arzt« seine Erfahrungen mit dem Ritual gemacht hat und – wie er bekennt – »lange keine Meinung dazu hatte«, ist sich sicher, dass diese Angelegenheit unsere Gesellschaft weiter stark beschäftigen werde. Also inszeniert er mit dem »Goldenen Schnitt« ein »Fest rund um die Vorhaut«, bei dem das Publikum eingeladen ist, gemeinsam mit dem Darsteller-Paar (Jasmina Musić, Murat Seven) die Beschneidung zu feiern. Eine innerfamiliäre Konfliktsituation wird zum Spiegel. Das Große offenbart sich im Kleinen, das Politische im Privaten.
So funktioniert Moğuls Theater. Für das in Karlsruhe entstandene, seither auch in Münster und Hannover beheimatete Projekt »Fremdraumpflege« haben er und sein kleines Team den Schutz des Theaterraums verlassen. Gespielt wird jedes Mal in einer anderen privaten Wohnung. Die Zuschauer sind zugleich Gäste, die mit einer Situation konfrontiert werden, in der sich alltäglicher Rassismus Bahn bricht. Nach etwa einer Stunde ist das Spiel vorbei, aber der Abend fängt dann erst richtig an. In der ungewohnt intimen Situation in der fremden Wohnung ergibt sich automatisch ein Gespräch zwischen Betrachtern und Machern, Gästen und Gastgebern.
Die Bedeutung des Theaters in der von unterschiedlichsten Kulturen geprägten Gegenwart ist eines der großen Themen, die Moğul umtreiben. Er, der als Schauspieler selbst die Außenseiter und Fremden darstellen musste, wünscht sich für das Ruhrgebiet ein Theater nach dem Vorbild des Stuttgarter Theaterhauses und des Ballhaus Naunynstraße in Berlin. »Die Gesellschaft im Krankenhaus ist viel multikultureller als alles, was ich am Theater erlebe.«
»Der goldene Schnitt. Ein Fest rund um die Vorhaut« von Tuğsal Moğul; Premiere am 16. April 2016; Termine: 22. & 28. April; Schauspiel Dortmund / Studio