TEXT: ANDREAS WILINK
»Physisch von eher kleiner Gestalt, aber von einer geistigen Kraft, einem betonten Humanismus und einem Freiheitswillen im künstlerischen Ausdruck, die … das Urbild aller Tugenden des liberalen Bürgertums darstellten«: So hat Gerard Mortier zum Jubiläum im Oktober 2013 Giuseppe Verdi charakterisiert. Die Beschreibung trifft auf ihn selbst zu.
Ohne diesen Impresario, Kunst-Ermöglicher und Vordenker würde es die Ruhrtriennale so nicht geben. Nach zehn Jahren Salzburg stand Mortier klar vor Augen, dass es ein Anti-Repräsentations-Festival sein müsse, zumal im ehemaligen Revier, das dem Flamen auch von der Mentalität nahe lag. Der Schatten der Krupp-Villa-Hügel fiel schon auf das erste Festival-Jahr seiner Intendanz, als er Johan Simons und dessen Hollandia-Truppe mit Viscontis »Fall der Götter« einlud.
Mortier hat das Aufrührerische, Widerständige in der Kunst gesucht und herausgefordert. So dezent und vornehm er wirkte, im konservativ blauen Anzug des französischen Maître, mit dem akkurat gescheitelten Haar, der Bäckersohn aus Gent, Jesuiten-Zögling und promovierte Jurist war kein bürgerlich bequemer Geist. Er war Citoyen, die explosiven Töne und Gedanken von Verdi und Mozart im Kopf und im Herzen. Mortier, als Intendant in Salzburg, Paris und Madrid als den ersten Adressen nationaler Kultur, hat nie in Kategorien von Prestige und Staatskunst gedacht, sondern sie für seine Ideen genutzt. Die Programmatik des Théâtre Nanterre-Amandiers und der Stein-Schaubühne befruchteten seine Intendanzen seit dem Laboratorium der Monnaie-Oper in Brüssel, die er 38-jährig übernahm.
Chéreau und Grüber standen ihm in ihrem Querdenken nahe. Peter Sellars und Alain Platel führten bei ihm Stoffe und Stücke in die Sperrbezirke des Sozialen, in Hanekes »Don Giovanni« brannte das Fegefeuer der Eitelkeiten in einem Konzern-Tower. Mortier, der Idealist und Utopist, der ästhetische Revolutionär, wagte immer den passo estremo, wie es im »Don Giovanni« heißt.
Die schönsten Ruhrtriennale-Inszenierungen seiner Ägide – »Wolf« von Platel und »Sentimenti« (nach Ralf Rothmanns Roman »Milch und Kohle«) von Johan Simons – waren herausragende Beispiele der von Mortier so genannten Kreationen, deren Genre-übergreifendes Konzept die Nachfolger Flimm, Decker und Goebbels beibehielten und auf ihre Weise variierten.
Unermüdlich, beweglich und hoch motiviert, war Mortier sich nicht zu fein, um die Triennale in kleinen Veranstaltungen des kleinteiligen Ruhrgebiets zu bewerben und inspirierend sein Projekt vorzutragen. Streit ging er nicht aus dem Weg, er pflegte Feindschaften, er wuchs an ihnen, es mobilisierte seine Widerstände. Nichts hasste er mehr als bourgeoise Borniertheit, den Missbrauch von Kunst für den Event und die Verkommenheit der ökonomischen und politischen Klasse. In seiner formvollendeten Liebenswürdigkeit lag Ironie, sein Charme konnte Biss haben. Den meisten von uns war er überlegen. Einigen hat er dies auch gezeigt.
Die Grund-Idee, eine Linie der Transzendenz in die Programmatik des Festivals einzuziehen, bedeutete, das Materielle und Klassenkämpferische, das in den Industriedenkmalen selbst eingelagert war, zu überwinden. Alles, nur kein »Ring« für die Zechen, Kraftzentralen, Fabrikations- und Maschinenhallen. Das Prometheische anerkannte Mortier. Nicht aber die Romantisierung dieser lieus de mémoire, wie er sagte. Also nicht Wagner, sondern Claudel und Racine, Olivier Messiaen, das Grand Bleu eines Bill Viola und die frohe Botschaft des »Saint Francois d’Assise« unter der Farbkuppel des Künstlers Ilya Kabakow in der Jahrhunderthalle. Keine Angst vor Engeln, vor einer spirituellen Invasion und der Wiederentdeckung des Himmels. Kabakov nannte Mortier den »geistigen Nachfolger von Sergei Diaghilev«.
70-jährig ist Gerard Mortier am 9. März 2014 in Brüssel gestorben. »Addio del Passato«, singt die »Traviata« Violetta. Sein Einsatz für die Künste und seine »Dramaturgie einer Leidenschaft«, wie sein vor wenigen Tagen erschienenes Buch heißt (Bärenreiter / Metzler, Kassel bzw. Stuttgart & Weimar, 126 S., 24,95 Euro), werden in Europa in die Zukunft wirken.