TEXT: MARTIN KUHNA
Im Mittelpunkt der Schau steht ein Paar – oder zumindest ein Mann und eine Frau, die vor 14.000 Jahren wohl nicht grundlos nebeneinander in rheinländischer Erde begraben und deren knöcherne Überbleibsel vor 100 Jahren in Bonn-Oberkassel zu Tage gefördert wurden. Was den Steinbruch-Arbeitern zunächst wie nutzloser Beifang erschien, erwies sich bei näherer Inspektion durch Fachleute als wissenschaftliche Sensation: einer der ältesten Funde »anatomisch moderner Menschen« in Deutschland, zudem sehr gut erhalten, zumindest nach den bescheidenen Maßstäben der Archäologen. Die Präsentation der beiden Skelette unter Glas zeigt indes, dass vor 100 Jahren wohl nicht mehr alles eingesammelt werden konnte, was Experten unerwartet für so wertvoll erklärt hatten. Besonders die Frau ist keineswegs vollständig.
Gleichwohl dienen die zwei Toten, die ihre letzte Ruhestätte im Rheinischen Landesmuseum Bonn fanden, bis auf den heutigen Tag als ergiebige archäologisch-historische Quelle. Gerade in den letzten Jahren konnten mit modernsten Analyseverfahren aus den Knochen und Grabbeigaben erstaunliche Details zum Leben der Eiszeitmenschen erforscht werden: dass sie ein sehr mobiles Leben führten etwa, dass er Linkshänder war, dass sie mindestens eine Schwangerschaft durchlebt hatte. Eine Frankfurter Rechtsmedizinerin gab dem Paar kürzlich sogar die Gesichter zurück: Basis für suggestive Farbbilder, die die Eiszeitjäger in Lederkluft bei der Jagd zeigen.
Sie war etwa 25 Jahre alt, 1,59 Meter groß, mit einem zarten, schmalen Gesicht. Er war bis zu 20 Jahre älter, 1,68 Meter groß, sein Gesicht wird im Begleittext wohlwollend als »markantes, auch heute noch beeindruckendes Äußeres« beschrieben. Die frühen Forscher des Oberkasseler Paares hingegen hatten konstatiert, dass der Schädel des Mannes »etwas Brutales« habe. Richtig hübsch will er auch uns nicht erscheinen, aber das ist auch bei Eiszeitmenschen wohl Geschmackssache. Ob es sie gestört hat, dass der ältere Herr neben ihr nur mehr wenige Zähne im Munde hatte? Freilich litt sie auch selbst unter einer »mittelschweren Parodontose«, was beweist, dass in Hygiene-Hinsicht nicht alles früher besser war.
Überhaupt fanden die Forscher zwar heraus, dass die Oberkasseler einander nahe gestanden haben dürften und vielleicht miteinander verwandt waren. Ob sie aber tatsächlich ein Paar waren, er der Vater ihrer Kinder war, das bleibt noch ihr Geheimnis. Übrigens fragt man sich anlässlich der Anspielung aufs Paradies, wie diese frühen Rheinländer miteinander gesprochen haben und ob sie Namen hatten wie Adam und Eva und deren Nachkommen in der Bibel. Aber da bleiben die Quellen trotz aller Fortschritte stumm.
Die angesichts der naturalistisch wiederbelebten Früh-Menschen naheliegende Frage steht für ambivalente Gefühle, die viele Besucher in Bonn haben dürften, soweit sie nicht mit frühgeschichtlichen Daten vertraut sind: Einerseits sehen uns die Zwei sehr ähnlich, und 14.000 Jahre sind ja auch noch gar nicht so lange her. Andererseits befand man sich vor so kurzer Frist eben noch in der ausgehenden Eiszeit und der Millionen Jahre währenden Steinzeit. Was uns von ihnen trennt, sind ein paar Sekunden Menschheitsgeschichte, aber so voll von dramatischer Veränderung, dass uns der Neandertaler, wenige Meter entfernt im selben Museum liegend, aus dieser Perspektive wie ein Zeitgenosse der Oberkasseler Jäger erscheint. Obwohl das Individuum 26.000 Jahre vor ihnen gestorben ist und auch die Neandertaler-Verwandtschaft zu Lebzeiten der Oberkasseler längst der Konkurrenz des Sapiens erlegen war.
Diesem von Zeitangaben und Begriffen wie Eiszeit und Steinzeit hervorgerufenen Empfinden der Fremdheit setzt die Ausstellung Bilder von Wärme und einer gewissen Vertrautheit entgegen: Im zentralen Museumsraum wird die Formel vom »Leben im Paradies« inszeniert. Es regiert hell weiches Licht; Rentier, Elch, Wildpferd und »dicknasige Saiga-Antilope« stehen ausgestopft wie im Sonnenschein, nicht weit entfernt von einem mit braunen Lederhäuten bespannten Rundzelt, das richtig gemütlich wirkt. Von Schnee und Eis keine Spur. An der Wand als Hintergrund eine farbige Darstellung des späteiszeitlichen Rheintals – durchaus geeignet, Interesse an einer touristischen Zeitreise zu wecken.
Es ließ sich also hier leben vor 14.000 Jahren, zumal die Temperaturen der letzten Eis- oder besser Kaltzeit bereits im Steigen begriffen waren. Die Menschen waren nicht von Schneewüsten umschlossen, und sie lebten nicht in Iglus. Ein Garten Eden war ihre Welt freilich nur in dem Sinne, dass sie mit der und von der Natur lebten, ohne sie nachhaltig zu verändern oder gar zu schädigen. Dass nämlich eiszeitliche Tiere durch die schlauen Jagdmethoden des Sapiens dezimiert und ausgerottet worden wären, verweisen Fachleute im Begleitbuch ins Reich der Legenden.
Umgekehrt waren die Menschen von der sie umgebenden Natur dominiert, der sie ihr Überleben auch ohne Eis und Schnee in harter Arbeit abtrotzen mussten. Die gebratenen Tiere flogen ihnen nicht in den Mund, so ein sorgenfreies Paradies war das nicht. Dass der rustikale Oberkasseler Mann mit möglicherweise 45 Jahren vergleichsweise uralt war, spricht Bände. Überdies war diese Welt damals noch existenziell bedroht durch eine Gewalt, die man eigentlich eher mit fremden Ländern oder viel früheren Zeiten assoziiert. Nur etwa tausend Jahre, nachdem das Paar das Rheintal durchstreift hatte, verabschiedete sich der Eifel-Vulkanismus mit einem vorerst letzten großen Knall. Der Ausbruch, bei dem der Laacher See entstand, bedeckte die Umgebung mit einer meterdicken Gesteins- und Aschemasse. In Bonn zeigt man Tierspuren, die dabei konserviert wurden. Paradiesisch? Sicher nicht.
Welch entscheidende Rolle die Jagd spielte im Leben der Oberkasseler und ihrer Zeitgenossen, spiegelt sich in den gezeigten Waffen, Speerschleudern, Pfeil und Bogen, sowie in Kunstwerken, in denen Tierdarstellungen eine große Rolle spielen. Ein eigenes Kapitel widmet die Schau einer speziellen Grabbeigabe: Aus einigen Knochen schlossen die Forscher, dass es sich um eine frühe Form des Hundes handelte, zu dem seine menschlichen Besitzer womöglich schon die bis heute virulente Affenliebe entwickelt hatten. Jedenfalls war die Beziehung schon so speziell, dass sie für den Hund tödlich enden konnte – wenn er nämlich zu Herrchen und Frauchen ins Grab gelegt wurde.
An vielen Punkten der Ausstellung gibt es Mitmach- und Ausprobierstationen, die sich besonders an junge Besucher wenden, aber auch Erwachsenen helfen können, das Leben der Eiszeitjäger wie die Arbeit der modernen Archäologie zu begreifen. Wer gern in einem abgetrennten Raum testen will, wie man Speere mit Hilfe spezieller Hölzer aufs Ziel schleudert, sollte am Wochenende zu Besuch kommen: Nur dann wird diese Jagdmethode unter Aufsicht trainiert.
»Eiszeitjäger – Leben im Paradies«, Rheinisches Landesmuseum Bonn, bis 28. Juni 2015; www.landesmuseum-bonn.lvr.de