TEXT: MARTIN KUHNA
Die Einrichtung, die Oberstaatsanwalt Alfred Brendel seit 2010 leitet, spielte in vielen »letzten großen« NS-Verfahren der jüngsten Zeit eine wichtige Rolle. Ihr Name ist so umständlich wie uneindeutig: »Zentralstelle im Lande Nordrhein-Westfalen für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen«. Gibt es da nicht schon eine Zentralstelle in Süddeutschland? Inwiefern ist Dortmund zentral?
Es fing, so Brendel, 1958 an mit dem Ulmer »Einsatzgruppenprozess« gegen ehemalige Angehörige der SS und der Polizei; sie waren nach dem Überfall auf die Sowjetunion an einem Judenmassaker beteiligt gewesen. Der erste Prozess, den die bundesdeutsche Justiz überhaupt gegen NS-Massenmörder führte, erregte Aufsehen, und die Justizverwaltung begriff, dass da noch Einiges auf sie zukommen würde. Noch im selben Jahr wurde die »Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen« in Ludwigsburg gegründet.
Weil aber die Justiz Ländersache ist, so Andreas Brendel, kann »Ludwigsburg« nur Vorermittlungen leisten. Dann müssen die zuständigen Staatsanwaltschaften aktiv werden; da Tatorte meist im Ausland liegen, richtet sich das nach dem Wohnort der Beschuldigten. In Nordrhein-Westfalen gründete man wegen der vielen Verfahren 1961 zwei Landes-»Zentralstellen«: eine in Köln für Verbrechen in Konzentrationslagern (sie wurde 2006 aufgelöst), eine in Dortmund für die übrigen Fälle. Diese »Zentralstellen« blieben eine NRW-Besonderheit. Allerdings, so Brendel, habe es in Bayern und Baden-Württemberg entsprechende »Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften« gegeben.
In NRW jedenfalls schien man gut gerüstet; in Dortmund arbeiteten mehrere Staatsanwälte und Oberstaatsanwälte an NS-Fällen. Heute erledigt Andreas Brendel die aktuellen Fälle allein. Trotzdem wurde die »Zentralstelle« – wie die bundesdeutsche Justiz generell – für fehlenden Ermittlungseifer gescholten, zumal anfangs Juristen mit eigener NS-Vergangenheit beteiligt waren. Noch vor 20 Jahren wurde Brendels Vor-Vorgänger kritisiert, weil »Dortmund« die Fälle der später verurteilten NS-Mörder Anton Malloth (Gestapo-Gefängnis Theresienstadt) und Erich Priebke (SS-Massaker bei Rom) jahrelang halbherzig verfolgt habe.
Andreas Brendel, 52, ist ein ernster und zugleich sehr freundlicher Mann, aber subjektiven Einschätzungen und gar Gefühlen gibt er nur wenig Raum in der Öffentlichkeit. »Sachverhalt« ist sein Schlüsselwort. Und um die Entscheidungen seiner Vorgänger sachlich zu beurteilen, müsse er die Fälle wieder aufrollen und prüfen. Geht natürlich nicht.
ZEUGEN GIBT ES KAUM MEHR
Brendel selbst hat noch niemand mangelnden Eifer attestiert. Eher stellt man ihm die Frage, ob das denn jetzt noch sein müsse: Greise mit Taten aus ihrer Jugend zu konfrontieren. Die Vorwürfe sind nicht neu, aber die Situation spitzt sich zu: Jedes Verfahren ist das »vermutlich letzte«. Zeugen gibt es kaum mehr. Die Beschuldigten sind uralt, oft krank, hinfällig, gedächtnisschwach bis dement. Warum also noch? »Ich wiederhole die Formel immer wieder, meine es aber ernst: Mord verjährt nicht. Ich muss solche Hinweise verfolgen.« Und: »Man ist es auch den Opfern und ihren Angehörigen schuldig.« Dabei zähle auch schon der Versuch, »aufzuklären, was damals passiert ist.« Sachverhalte!
Dass die Zentralstelle immer wieder mit neuen Fällen konfrontiert wird, hat mit vielen Faktoren zu tun. Öffnung von Archiven in Osteuropa zum Beispiel, Ergebnisse historischer Forschungen, erneuerte Such-Initiativen unter der Überschrift »Letzte Chance«. Und geänderte Rechtsauffassungen: Ein »Befehlsnotstand« etwa wird heute weit seltener zugestanden. Zuletzt hat 2011 das Münchener Urteil gegen den ukrainischen SS-Gehilfen John Demjanjuk die Lage verändert, weil das Gericht ihn wegen Beihilfe zum Mord verurteilte, ohne ihm eine konkrete Tat nachweisen zu können. Dass er in bestimmter Funktion (Wachmann) an einem bestimmten Ort (reines Vernichtungslager) war, genügte: Er konnte gar nicht unbeteiligt sein. Der Prozess und das Urteil lenkten noch einmal Aufmerksamkeit auf mehrere Verdachtsfälle, auch in Dortmund.
Es geht um Personal aus Vernichtungslagern wie Sobibor, Belzec, Auschwitz-Birkenau, um Judenmorde in Osteuropa oder beim »Ostwall«-Bau in Wien, um Einzelmorde und Massaker beim vorgeblichen Partisanenkampf in Nord-italien, Frankreich oder Holland. Die Details: brutal und oft unvorstellbar grausig. Die Beschuldigten sind heute sehr alte Männer, die aber damals noch sehr jung waren und folglich nachgeordnete Ränge bekleideten. Ihre Reaktion, so Andreas Brendel, sei fast immer gleich: »Was hätte ich denn machen sollen …«, sagen sie und weisen damit auf den angeblichen »Befehlsnotstand« hin. Die nächste Erklärung sei für gewöhnlich: »Ich habe an meinem Posten von dem Mord nichts mitbekommen.«
REISEN AN DIE TATORTE
In solchem Fall kann eine Reise an den Tatort helfen. Nach Belzec etwa. Das Lager ist zwar abgeräumt, doch Dimension und Topografie könne man noch erfahren, sagt Brendel. Und es sei offensichtlich: In dem kleinen, weil nur zur Vernichtung der Ankommenden bestimmten Lager gab es keine Stelle, an dem ein Wachmann ahnungslos geblieben sein könnte. Ähnlich war es bei der Besichtigung des französischen Oradour-sur-Glane. Den Ort hatten SS-Männer 1944 mit fast allen Bewohnern grausam ausgelöscht. In diesem Fall sagt jetzt der Beschuldigte, er habe an dem Massaker nicht teilgenommen, habe außerhalb Wache gestanden und wenig von dem Geschehen gesehen. Die Schilderung des heute 89-Jährigen passte nicht zur Realität von Oradour, dessen brandgeschwärzte Ruinen bis heute unverändert stehen.
Nicht selten fällt sogar der Satz: »Ich habe während des ganzen Krieges keinen Schuss abgegeben!« Da frage man sich schon, sagt Brendel mit einem kurzen Anflug von Sarkasmus, wie Deutschland überhaupt Krieg habe führen können. Aber grundsätzlich glaubt er nicht, dass die alten Männer bewusst taktieren. Es seien meist »subjektive Wahrheiten«, die da präsentiert werden, geformt zum Eigenschutz in Jahren unauffällig bürgerlichen Lebens. Wenn solche Wahrheiten dann in Details durch Beweise erschüttert und zerstört würden, so Brendel, lenkten die alten Männer oft ein: »Wenn Sie das so sagen …«
Ein Prozess in Sachen Oradour gegen den einstigen SS-Mann aus Köln steht noch aus; ebenso verhält es sich mit Wachpersonal aus Auschwitz, das erst jüngst in den Blick der Ermittler kam. Sicher ist nichts: Der in Bonn lebende Wachmann aus Belzec war prozesstauglich und stand 2010 unmittelbar vor seinem Verfahren, als er plötzlich starb – unerwartet, soweit man das bei einem Greis sagen kann. Ein Prozess in Hagen Anfang 2014 endete mit Freispruch – Niederlage für Oberstaatsanwalt Brendel? »Nein.«