TEXT: ANDREAS WILINK
Am Ende ist alles hin – Rhythmus und Timing, der Einsatz der Requisiten, der Text-Ablauf und das verabredete Reagieren auf Stichwort und vor allem die gelassene Professionalität und Präzision der Schauspieler. »Der Nackte Wahnsinn« vor, in und hinter den Kulissen bricht aus – eine Katastrophengeschichte des Theaters, seiner Mechanik und Mechanismen, Tricks und Ticks, Finten und Fallen, Nöte und Neurosen. Es muss schon Programmatik sein, wenn eine Intendanz mit Michael Frayns Komödie beginnt. Stefan Bachmanns Entscheidung begründet er mit dem Raum: dem neuen Depot im Carlswerk von Köln-Mülheim. Aber die problematische Akustik, der Mangel an Technik und besonders das riesige Format der Bühne, das alles in die Länge und Breite zieht und dem Spiel Distanzen aufzwingt, ohne dass Rafael Sanchez mit dem Widerstand produktiv umginge, macht die Aufführung von Anfang an zur Mühsal, deren Gehetztheit nicht reflektierend wirkt, sondern wie Überforderung durch die konkreten Bedingungen.
Selbstgewähltes Schicksal, dem Bachmann noch weniger entgeht. Er beantwortet die Schwierigkeit der 30-Meter-Bühne mit dem schlichten Gedanken, den Raum als das zu nehmen, was er ist bzw. war: eine Werkshalle. Aber in einem Industrieraum Arbeit zu spielen, ist nicht originell; es entsteht keine Reibung und Irritation schaffende Differenz. In Bachmanns Adaption von Any Rands »Der Streik«, seinem Kölner Regie-Einstand, bleibt es bei der Gleichung. Das Roman-Pamphlet aus dem antikommunistischen Geist der 50er Jahre benutzt einen amerikanischen Gründer-Mythos, den Eisenbahnbau, als Vehikel für eine politische Utopie. Die Eroberung des Landes, seiner Ökonomie und sozialen Verfasstheit erfolgt durch eine stahlharte Frau, Dagny Taggart, ihre Eisenmänner und einem Ölprinzen, die als Atlas die Welt tragen und sich gegen Staatswirtschaft und Bevormundung, Gewerkschaften, das Gemeinwohl und falsche Gefühlsregungen stemmen. Bachmann arrangiert anfangs eine Gesellschaftsaufstellung und isoliert die Figuren in Lichtkreisen, lässt dann einen Laster ins Depot rollen, das Ensemble Geröll schüppen, Bohlen und Schwellen verlegen, Thesen und Theorien vortragen und macht zur Abwechslung etwas Hollywood-Wind. Die Figuren sind 100 Prozent holzfreies und blutleeres Papier und die in neutraler Debatten-Kultur ausgebreiteten Positionen zwischen Profit-maximierung und Wohlfahrt von schematischer Banalität. Energieverschwendung.
SEZUAN IN KÖLN
Dafür im Depot 2 ein himmlischer Beginn. Sechs Menschlein unter blonden Bubikopf-Perücken und mit weißem Flügelflaum an den Schultern – im Halbdunkel kann man sie für Halbwüchsige, Hobbits oder die Heinzelmännchen halten – erobern sich den Raum. Auf dem Betonboden ein Schutthaufen, Laufband, Absperrgitter, Baumaterial und ein Flügel. Drei aus dem Sextett enthüllen sich als »Erleuchtete« – Götter, die Quartier suchen und den einen Guten und Gerechten in einer schlechten Welt. Sie wispern verhallend ins Mikrofon – eine kindliche, freudig staunende, kabbellustige Minimasse. So begegnen sie dem Wasserträger, der sie zur Prostituierten Shen Te bringt, deren Gastfreundschaft sie versilbern. Die Himmlischen verschwinden, Shen Te kauft einen Tabaksladen, der auf Christian Becks Bühne als Müllcontainer mit Zigarettenautomat hereinrollt, und wird in ihrer Mildtätigkeit derart ausgebeutet, dass sich der Engel der Vorstadt einen Vetter erfindet, den rabiaten Shui Ta, in dessen Gestalt sie ihre soziale Misswirtschaft mit harter Hand korrigiert.
Moritz Sostmann und sein fabelhaft agiles Ensemble bringen Brechts »Sezuan«-Parabel scheinbar naiv, aber gewitzt zur Anschauung und treiben es ganz schön bunt in die ambulante, dynamische Rotation. Die Verfremdung des Lehrstücks wird verfremdet durch den Einsatz ausgewachsener Puppen, die sich mit den Darstellern mischen, von diesen geführt werden, wobei sie sich einander in zarten Gesten anverwandeln. Wir sehen keine fest umrissenen Entitäten, sondern Spiel-Angebote, Bälger, poröse Figuren als Umriss im flinken Wechsel, so dass jemand von einem Moment zum anderen gleich drei Personen bedient und Ich-Krisen heraufbeschwört, die Kleists Dramen in nichts nachstehen. Ohne dass je aus dem Sinn geriete, dass sich die Moral von der Geschicht’ filtert, bis im Finale krähender Kindermund Wahrheit kund tut. Shen Te ist eine Demimonde mit Sonnenbrille, die sich in »In the mood for love« einer Wong Kar-wai-Heldin wiegt, und später von Magda Lena Schlott als ihrer echten Doppelgängerin übernommen wird. Die Schnorrer, die sich bei ihr einquartieren, sind kölsch bis multikulturell prekariatsgeschädigte Zaungäste und Krawallmacher, wuschelige, stachelige, flauschige, Muppet-mäulige Schmutzige, Hässliche und Gemeine. Man spart über die drei etwas langen Stunden mit Anmut nicht noch Mühe: ist musikalisch, lautmalend, poesievoll, stimmenreich, verspielt, charmant und klug im Unterlaufen der ideologischen Spannungsfelder zur reinen Lust an der theatralischen Aktion.
DÖBLIN IN BONN
Ein paar Kilometer rheinabwärts will Bonns neuer Intendant Bernhard Helmich das Any-Rand-Volumen noch toppen. Mehr als 2.000 Seiten in vier Bänden umfasst Alfred Döblins Chronik der Ereignisse des »November 1918« über Bürger und Soldaten, die verlorene Generation der Fronttruppen, Politiker, Täter, Opfer. Das Manuskript entstand im französischen und US-amerikanischen Exil als Werk eines Zeitgenossen, der das Vergangene aus der Gegenwart der braunen Diktatur betrachtet. Erst zwei Jahrzehnte nach dem Tod des Schriftsteller-Arztes konnte es komplett erscheinen. Der sein Epos filmisch inszenierende, in dessen narratives Schicksal eingreifende Autor von »Berlin Alexanderplatz« stellt nach Franz Biberkopf wiederum einen Versehrten ins Zentrum: den gottfrommen Lehrer Dr. Friedrich Becker mit Rückgrat-Verletzung und seelischen Blessuren, die ihm »die Schmach des jahrelangen Mordens« verursachen.
»Nieder mit dem Krieg. Nieder mit der Regierung«, üben sechs Darsteller von leise zu laut ein, die aus dem Parkett der Godesberger Kammerspiele – die träge Masse als Fleisch von unserem Fleisch – nach vorn treten. Und sich als Chor hin-hocken vor einer Schriftwand mit den historischen Daten, hinter der sich ein heller Bunker-Trichter öffnet; dazwischen ein Spalt, gefüllt mit Erde: deutscher Grabesboden, der nach der Pause verschmutzt und vermatscht. Döblin widmet sich in einem Teil »Karl und Rosa«, umkreist von einigen Satelliten: Männer, Frauen, dem Pazifisten Becker (jünglingshaft idealisch: Sören Wunderlich), einem schwulen Märtyrer, einem Spartakisten, einem Freikorps-Anhänger. Der »Oberpriester der Masse« erscheint in Kontrast zu Lenin, dem Demagogen der Tat, als Fantast der Revolte und emsiger Schreiberling (Glenn Goltz) noch bis über die Kugeln seines Mörders hinaus. Döblins Sympathie gilt Rosa, einer Frau von Fleisch und Blut, Herz und Kopf, groß im Lieben und im Hassen. In der Bonner Materialachlacht ist Sophie Basse allerlei: Mater Dolorosa, Mutter Courage, schwarze Witwe, Künderin, Drama-Queen, nur eines nicht: charismatisch.
Politik, Religion und Metaphysik – das geht bei Döblin zusammen, seine Geschichte spielt »zwischen Himmel und Hölle« mit einem intelligenten Einflüsterer Satan (Alois Reinhardt: als Punk-Berserker-Krüppel). »November 1918« bezieht sich auf die antike Tragödie ebenso wie auf Wagners »Ring«; sein Klima wird auch den »Doktor Faustus« umwehen in der zweiten großen deutschen Höllenfahrt. »Leiden an Deutschland« peinigt auch Rosa, wenn ihr gefallener geliebter Hannes wie ein Dibbuk aus ihr spricht, sich an sie drängt und auf ihr lastet als Albdruck, kalkig geschminkt und expressionistisch verzerrt. Gleich einer der Staatsgewalt trotzenden Antigone betrauert sie ihn, während das Paar sich wie Tristan und Isolde ineinander auflöst.
Die Bonner Fassung birgt ein Privatissimum des Politischen, Groschenroman und Gespenstersonate, Sinngedicht und Gedankenspiel, Strategiedebatte, Sündenbekenntnis und Räsonnement über Krieg und Weltrevolution. Alice Buddeberg präpariert das Antirealistische und Halluzinatorische, das Demonstrative der Lektion und ihr Groteskes heraus mit eckig versteiften Kunstfiguren im Rollenwechsel. Sie treibt die komischen und kaputten Zeit-Heiligen und Leidens-Apostel über die schiefe Bühnenebene und über die Zuschauersitze, treibt sie in die Kolportage und aus der historischen Umklammerung in Insider-Improvisationen und schließlich in einen sehr überdehnten aktionistischen Leerlauf. Der Stoff zerfranst. So schwer und dick er bei Döblin ist, hier bekommt er dünne Stellen. Kein Stück. Nur eine weitere unfertige deutsche Revolution, im filmischen Abspann elegisch erweitert auf globale Aufstände.
BURGUND IN BOCHUM
Wenn man so will, sind »Die Nibelungen« der Ur-Sündenfall und Keim des unglücklichen deutschen Bewusstseins. Ganz in Schwarz, scheinen Bochums Burgunden zu Anfang schon am Ende. Das mittelhochdeutsche Nibelungenlied, das Mutter Ute vorträgt, hören ihre drei Söhne, die Tochter sowie Hagen noch gefasst an. Aber als Kriemhild es auf Hochdeutsch wiederholt und emotional schmerzend aufschlägt, wenden sie sich ab mit Grausen. Sie wissen, was geschehen wird. Hebbels gewaltiges Drama beginnt bei Roger Vontobel mitten drin: nach Siegfrieds Tod, zur Brautwerbung Etzels. Der Fluch ist schon gesprochen, die Schicksalslinie gezogen: der gemordete Freund und Schwager, der geraubte Hort, der Verrat der Bluts-Brüder an der Schwester, die zur Witwe wurde. Sie ist in der Asche und wäscht sich mit Siegfrieds Staub: Jana Schulz, halb Tarzan, halb Breker-Boy, Trotzkopf und Tankgirl, spielt furios die Partie der Racheflamme. Sie und ihr Widerpart Hagen, den Werner Wölbern imponierend mit kalt scharfem, ideologiefreiem Kalkül zeigt, und die gedemütigte, von allen aufs Spiel gesetzte Brunhild sind die Heroen der fünfstündigen Aufführung, die ebenso unideologisch, unparteiisch – und unkritisch – die zwangsläufige Katastrophe betrachtet. Wie ein Katafalk ist das Schauspielhaus ausstaffiert und in seinen Seiten begrenzt und verhangen: ein düster hoher Saal, schwarz und golden, umwogt von Orgelschwall und Trommelschlag. Ein Steg durchschneidet das Parkett und dient als Anlaufstelle für die Akteure, die uns in Blut, Schweiß und Tränen nahe kommen.
Durch die nicht sehr einsichtige Umstellung der Akte träumen und singen sich Gunther – Florian Lange als schmerbäuchiger Tropf und bequemer Kleinbürger-König – und die Seinen an Etzels Hof in ihre eigene Legende der Vergangenheit, Kindheit und Unschuld (von Schwarzweiß-Videos zusätzlich bebildert). Das waren heitere Spiele, die die Olympiade 1936 freilich auch zu sein vorgab. Vontobels Inszenierung ist stark und beklemmend, wo er das Drama persönlich nimmt und der Gefühlshaushalt extrem in Unordnung gerät. Wenn Siegfried (Felix Rech), Prahlhans, Schreihals und goldiger Darling, sich zur tragischen Figur entwickelt, dem schlecht vergolten wird, was er Gutes zu tun genötigt wurde. Wenn die beiden Frauen ihr Ehedrama leben, sich in der Paarung gegenseitig an Lust-Steigerung überbieten wollen, prahlerisch und hochmütig sind – und fallen. Und wenn Matthias Redlhammer als Herr der Hunnen, ein kultivierter Gentleman in weißem Anzug und Piano-Player, seine rheinische Braut in einer erotischen Badeszene empfängt. Aber die Aufführung bleibt befremdlich, wo sie sich nachgiebig gegenüber Pathos und totalitärer Hollywood-Dramaturgie, Soldaten-Ehre und Männertreu’ verhält und monumental den Untergang vollzieht. Also auf der einen Seite Ibsen und die Einsicht, dass, wie Canetti meint, »Familie Todsünde« sei, auf der anderen Seite Bernd Eichinger. Am Ende ist alles hin.
www.theater-bonn.de + www.buehnenkoeln.de + www.schauspielhausbochum.de