Frank Wedekinds »Lulu« ist seit hundert Jahren Inbegriff der Femme fatale. 1913 erschienen seine Dramen »Der Erdgeist« und »Die Büchse der Pandora« zusammengefasst als skandalträchtige »Monstretragödie« in fünf Akten. Einen zeitgenössischen Blick auf die erotische Frau als Gefahr und als Gefährdete riskiert Münsters Tanztheater-Chef Hans Henning Paar. Er sieht Lulu als Missbrauchsopfer angesichts akuter Diskussionen über Kinderpornographie und Menschenhandel. Benutzt und weitergereicht seit ihrer Kindheit, macht sich Lulu das üble Verhalten zu eigen.
Vor Augen hatte Paar bei seinem Stück, das er wie ein Handlungsballett anlegt, Peter Zadeks berühmte »Lulu«-Inszenierung von 1988 mit Susanne Lothar. Sie habe der Figur »eine derartige Körperlichkeit gegeben, dass das Zusehen beinah schmerzte«, schreibt der Choreograf noch nachträglich überwältigt im Programmheft.
Vier Tänzerinnen schickt er auf die Bühne, um die Lebensphasen und Rollen vom Kind bis zur Hure deutlich zu machen. Paar weiß zu erzählen, gerät aber darüber ins Plaudern und verliert sich in überdeutlicher, flacher Symbolik: Lulus Slip wird zum Requisit, um fehlende Aufmerksamkeit herauszufordern; der Apfel zur Prophezeiung des Sündenfalls. Aktfotos mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen schmücken das Atelier des Künstlers Schwarz.
Darüber wurde vergessen, Charaktere zu entwickeln. Eine Ausnahme: die unselig in Lulu verliebte Gräfin Geschwitz, deren Seelennot in einer grandiosen Gefängnis-Szene verdichtet ist. Die Figuren um Lulu herum (allesamt starke Tänzer) denunziert der versierte Choreograf mit eckig ungelenken Bewegungen und in sexueller Gier flatternden Händen und kritisiert im Sinne Wedekinds auf diese Weise die Scheinmoral – die Schuldfrage ist also schnell geklärt. Lulu, dem unbekannten Wesen, schaut man nur zu beim Sex, beim Lieben und Lieben-Lassen – und gerät dabei allzu leicht selbst zum Voyeur.