TEXT: ANDREAS WILINK
»Die Amme hatte die Schuld«, heißt es zu Anfang einer frühen Novelle von Thomas Mann. Das trifft auch die vertrackte Grundsituation, die Salman Rushdie für seinen Großroman erfindet. Ein Kindstausch, eine aus kommunistischem Geist vollzogene Rochade und Revolution am Kleinen. Denn was arm geboren ist, soll reich werden – und umgekehrt. So wechselt Shiva, Sohn eines Straßensänger-Paars, wobei die Frau ihren Mann mit einem britischen Kolonialherrn als dem wahren Erzeuger betrogen hatte, die Identität mit Saalem Sinai, Sprössling eines wohlhabenden Kaufmanns und einer Arzttochter, die wiederum unglücklich einen armen Poeten liebt.
Das Ganze spielt nicht nur in Indien, sondern spiegelt in der privaten Biografie Geschichte und Schicksal des Subkontinents. Denn geboren werden die Knaben zur Stunde Null: im Feuerwerk-Festrausch der Unabhängigkeit Indiens am 15. August 1947. »Mitternachtskinder« nennt man diese historischen Babys. So teilt uns in der Verfilmung von Deepa Mehta der Erzähler Saleem mit, der zunächst ausführlich die Vorgeschichte aufrollt: das Werben des Großvaters, des westlich ausgebildeten Arztes Aziz, um die traditionell aufwachsende Naseem. Das Ehepaar bekommt dann drei Töchter, darunter Mumtaz, die auf Bestreben ihres Mannes Ahmed Sinai ihren Namen in Amina ändert, mit ihm nach Bombay zieht und Saleem zur Welt bringt.
Sechs Jahrzehnte und vier Generationen, von 1917 an, umfasst Rushdies literarischer »Liebesbrief« an seine Heimat. Shiva, der Tatmensch, und der gedankenvolle Saleem (Satya Bhabha), der wie ein Medium die Stimmen aller in Zauberei und Abrakadabra bewanderten Mitternachtskinder in seinem Kopf hat und sie aufrufen, ja sogar ihre Körper projizieren und sie in Fleisch und Blut herbeizaubern kann, repräsentieren den Konflikt zwischen den Kasten, zwischen Muslims und Hindus und die Kriege und Bürgerkriege zwischen Indien, Pakistan und Bangladesch. Der Märchenton und Magische Realismus in seiner kalorienreichen Poesie und blumigen Sprache, den Duftnoten und Farbspektren müsste auf die filmische Dramaturgie abfärben. Die Regie bewegt sich aber bieder, behäbig und unsinnlich durch die Episoden, ausschweifend zwar, dennoch vom zuschauenden Gefühl her wie im Schnelldurchlauf.
»Mitternachtskinder«; Regie: Deepa Mehta; Darsteller: Satya Bhabha, Shahana Goswami, Rajat Kapoor, Shabana Azmi, Siddharth, Rahul Bose; Kanada 2012; 148 Min.; Start: 28. März 2013.