»Glauben Sie, Bach dreht sich im Grabe herum? Er denkt nicht daran.« So empört hatte sich Paul Hindemith einst einen Zeitgenossen vorgeknöpft. Bloß weil der die kritische Frage gestellt hatte, ob man wirklich eine Bach-Fuge mit Ragtime-Rhythmen kreuzen dürfe. Für den damaligen Bad Boy Hindemith war die Antwort sonnenklar. Er ging sogar noch einen Schritt weiter: »Wenn Bach heute lebte, vielleicht hätte er den Shimmy erfunden.« 1921 war das noch reine Provokation.
90 Jahre später muss hingegen keiner mit einer Klage wegen übler Nachrede rechnen, wenn er behauptet, Bach sei der erste Jazz-Musiker der Welt gewesen. Von Jacques Loussier stammt diese These. Belege hat er dafür zuhauf gesammelt. Besonders mit seinem »Play Bach«-Projekt, mit dem er ständig unterwegs ist. In klassischer Jazz-Trio-Besetzung mit Klavier, Bass und Schlagzeug klopft Loussier die ausgewählten Bach-Stücke auf ihr Thema ab. Zuerst ganz nah am Original, bevor es immer mehr von den improvisatorischen Kräften des Jazz gepackt wird und zu swingen beginnt. Das Schema, mit dem Loussier und seine Kompagnons den Schulterschluss zwischen Bach-Elan und Jazz-Verve feiern, ist zwar ziemlich simpel. Aber es funktioniert schlicht bei jedem Werk. Bei einem Präludium aus dem Wohltemperierten Klavier ebenso wie bei der berühmten Orgel-Toccata & Fuge.
Jazz mit Barock-Groove
Seit 1959 macht Loussier das schon so. Wenngleich es vor ihm bereits Jazzmusiker vom Rang eines Django Reinhardt oder Benny Goodman gab, die vom Bach-Virus infiziert waren, hat der heute 76-Jährige mit seinem Langzeitprojekt ein riesiges Echo ausgelöst. Über sieben Millionen Tonträger wurden von Loussiers »Play Bach«-Aufnahmen verkauft. Mit ihnen hat Loussier den Barock-Groove-Boom unter Jazzern ausgelöst. Manchmal flirten die dabei sogar mit HipHop. Selbst die streng auf aufführungspraktische Korrektheit setzende Alte Musik-Szene wurde animiert und entdeckt Gemeinsamkeiten etwa zwischen Claudio Monteverdi und dem Bebop-Heroen Thelonious Monk.
Von all den neuen Trends blieb Loussier erstaunlich unbeeindruckt. Bis heute hält er stoisch an seiner markanten »Play Bach«-Handschrift fest, selbst noch in seinen Jazz-Adaptionen von Vivaldi, Mozart oder Ravel. Obwohl der 1934 an der Loire geborene Loussier mit seiner Revolte Musikgeschichte schrieb, ist er im Grund seines Herzens doch ein typisch konservativer Franzose. Für ihn ist die Melodie das Wesentliche (was vielleicht auf seine Zeit als Klavierbegleiter von Charles Aznavour zurückgeht). Da er auch in seinen klassischen Kompositionen nichts anderes im Sinn hat als »die Schönheit und die Einfachheit«, gerät er in Rage, sobald man ihn auf die zeitgenössische Musik anspricht. Schönberg, Stockhausen oder Cage? »Ich ertrage sie nicht«.
Bach würde heute so spielen
Zu seinen Musikern hat er ein ganz anderes Verhältnis. Ihnen ist er treu. Mit Pierre Michelot und Christian Garros, den Musikern der ersten »Play Bach«-Stunde, spielte er bis 1978. Zusammen mit dem Schlagzeuger André Arpino formierte er 1985 dann sein zweites Trio. Zu dem stieß bald auch Bassist Benoit Dunoyer de Segonzac. Mit ihnen gastiert Loussier beim Klavier-Festival Ruhr. Es mag stimmen, was die kanadische Bach-Ikone Glenn Gould über den Kollegen gesagt haben soll: »Würde Bach heute leben, er würde so spielen.«
14. Juli 2011, LWL Industriemuseum Henrichshütte Hattingen; www.klavierfestival.de