Wie klein diese Handschriften sind. Winzige Wörter nebeneinander, untereinander, dazwischengequetscht, durchgestrichen, neu geschrieben. Jede noch so kleine Stelle des Papiers ist ausgefüllt. Lesbar sind sie kaum, vielleicht mal ein einzelnes Wort, ein kurzer Satz. Für Annette von Droste-Hülshoff waren Worte wie Papier kostbar. »Ich kann es nicht aushalten, wenn ich auf einem Papier eine weiße Stelle sehe«, soll die Dichterin (1797-1848) gesagt haben. Ihre Handschriften aus dem Meersburger Nachlass, 1500 Seiten, darunter Reinschriften, aber auch Entwürfe von Gedichten, Notizen, Briefe, Quittungen, wurden im Westfälischen Literaturarchiv des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe digitalisiert. Dieser Nachlass der großen deutschen Dichterin gilt als einer der wichtigsten literarischen Nachlässe Westfalens. Im Center for Literature auf der Burg Hülshoff setzen Künstlerinnen jetzt einige dieser Droste-Handschriften performativ und intermedial in Szene.
Die Ausstellung »Droste Digital. Handschriften – Räume – Installationen« will Leben und Schaffen der Droste stärker in den Mittelpunkt rücken, in die Gegenwart holen und damit zugänglicher machen. Ein kleines, feines Schiller-Zitat, das Annette von Droste-Hülshoff in ein Fenster im Haupthaus kratzte, war bislang tatsächlich der einzige sichtbare Nachweis ihrer literarischen Arbeit auf der Burg. Ansonsten prägen die Eindrücke in der Dauerausstellung vor allem eine überbordende Fülle an Dingen mit Geschichte: bepolsterte Stühle, große Schreibtische, die Ahnengalerie, edles Porzellan, Annettes Kinderbett, unzählige Bücher hinter Glasscheiben und der knarzende Dielenboden. Vermittelt wird eine Gefühl von Biedermeier und Klassizismus. Die obere Etage im Haupthaus war bislang nicht zugänglich. Bis 2015 hatten die Drostes dort ihre Privatgemächer. Ein Tabu für Burg-Besucher*innen. Das ändert sich nun.
In geführten Gruppen von vier bis sechs Personen geht es über die breite, geschwungene Holztreppe ins Obergeschoss, in die neuen Museumsräume. Die wurden nach dem Tod von Jutta Freifrau von Droste zu Hülshoff, der letzten Privateigentümerin der Burg in Havixbeck, entkernt, alle Objekte inventarisiert. Und jetzt neu künstlerisch gestaltet – immer mit Bezug zur Droste, zu ihrem Leben und Arbeiten. In den disparaten Räumen werde sichtbar, wie vielseitig Drostes Schreiben ist, erklärt Kurator Oliver Pawlak.
Da ist zum Beispiel das Kinder- und Jugendzimmer Annettes. Nicht besonders groß, Blumentapete an der Wand, aus dem Fenster der Blick in den weitläufigen Park, der die Burg umgibt. Nora Gomringer hat den Raum bestückt mit biografischen Anspielungen und typischen Accessoires einer vielleicht 15-Jährigen. Da leuchtet eine Lampe in Form des Initials A. Auf dem Boden sitzt ein großer Kuschelbiber. Kerzen dekorieren ein Tischchen neben der Chaiselongue. Und Goethe – weißer Anzug vor pinkem Hintergrund – prangt wie ein Popstar von der Wand. Helden ihrer und unserer Zeit.
Das Werk, auf das sich die Autorin und Künstlerin bezieht: das Dramenfragment »Bertha. Oder die Alpen«. Ein Jugendfrühwerk, Droste hat es mit 16 geschrieben. Eine Alpenkarte hat Gomringer auf einen Teppich drucken lassen, der liegt wie eine Berglandschaft über dem Sofa und auf dem Boden. Skistöcke stehen im Milchkübel am Fenster, mit einem Bügel werden sie zum einfallsreichen Kleiderständer einer Jugendlichen. »Annette war eine Draufgängerin. Ihre Bertha eine emanzipierte Figur, die mit dem damaligen Rollenverständnis bricht«, erzählt Gomringer. Die Künstlerin hat für ihre Annette eine coole College-Jacke besticken lassen. Das »emanzipatorische Erwachen« der jugendlichen Droste, für die Alpen ein Sehnsuchtsort gewesen seien, ist für sie der spannende Fokus. Zur Vorbereitung hat sie das Dramenfragment zusammen mit sechs Freundinnen szenisch gelesen. Die entsprechenden Handschriften hängen als Folie vor dem Fenster, aus ihnen heraus wird der Raum beleuchtet.
Schräg gegenüber des Jugendzimmers steht ein riesiger Schrank an der Wand. Eine der Türen führt aber weiter als vermutet, sie öffnet sich zu einem neuen Raum. Es ist das ehemalige Studierzimmer von Annettes Vater. Die Autorin Dorothee Elmiger hat hier ein modernes Arbeitszimmer eingerichtet, mit Motiven aus Drostes »Judenbuche«. Bereit liegen Klebezettel, Nüsse und eine Zahnbürste, der Computer auf dem Eiermann-Schreibtisch. Wie arbeitet eine Schriftstellerin heute und wie hat Droste vor 200 Jahren gearbeitet? Das stehe als Frage hinter Elmigers Gestaltung, erklärt Oliver Pawlak. Die Autorin wird dafür ihr eigenes Wiki konzipieren.
Im Badezimmer ein Flur weiter ist die Atmosphäre weitaus surrealer. Das Künstler*innen-Kollektiv Hyphen-Labs – Ece Tankal und Carmen Aquilar y Wedge – hat Drostes Gedichtzyklus »Die Elemente« als Ausgangspunkt genommen für ihre Auseinandersetzung mit dem Thema Mensch und Natur. Komplett in Schwarz besprüht haben sie den Raum, die Fliesen, die Wanne, das Waschbecken, Boden und Decke. Beklemmend ist das. Mehrere Spiegel verzerren das Bild an diesem Nicht-Ort, Licht und Text werden hin- und herprojiziert. Erde, Wasser, Feuer und Luft sind so komprimiert auf engstem Raum.
Mobile lässt Wortwelt wachsen
Die Treppe hoch geht’s zum Dachboden des Haupthauses. Hier zieht der Wind durch die Ritzen. Die Balken knarren. Ein Storch hat sich obenauf ein Nest gebaut. Ist er anwesend, spürt man das. Der Himmel ist einem ziemlich nah, hier, so ganz ohne Dämmung. Aber auf dem Boden ist es weich. Emese Bodolay und Almut Pape vom Künstler*innen-Kollektiv Anna Kpok haben einen Teppich ausgelegt, einen riesigen, 36 Meter lang, zwei Meter breit. Auf ihn haben sie Drostes Handschriften drucken lassen, und zwar die aus dem Gedichtzyklus »Klänge aus dem Orient«. Der Zyklus beinhaltet auch erotische Elemente. Aber so etwas hatte eine Frau damals nicht zu publizieren. Also ‚verstecken‘ sie die Worte auf dem Dachboden. Anna Kpok spielen kritisch mit und auf mehreren Ebenen. Drostes Orient-Bild ist düster, voller Klischees, mystisch aufgeladen, immer das Andere – sie selbst war ja nie da. Die indische Landschaft projizieren die Künstlerinnen als Scherenschnitt auf den Eingangsvorhang – Droste war auch Musikerin, sie hat ein »Indisches Brautlied« komponiert. Von der Decke hängt ein Mobile der Handschriften, dafür können die Besucher*innen Buchstaben ausschneiden und so die Wortwelt wachsen lassen, groß und gut erkennbar.
Zurück nach unten eine Etage tiefer und zu den mikroskopisch kleinen Handschriften. Wie die eigentlich digitalisiert werden, zeigt eine Dokumentation. Und an einer Audiostation wird aus Drostes Briefen gelesen. Geplant ist auch eine Brille, die Besucher*innen die Welt durch Drostes Augen sehen lässt – die Dichterin litt an einer Hornhautverkrümmung.
Die Raum-Inszenierungen, Augmented Reality, Audio- und Videostationen – all diese verschiedenen Angebote der Rematerialisierung machen Droste und ihr Schreiben sichtbar(er) und erfahrbar. Es ist ein weiterer großer Schritt des Center for Literatur unter der Künstlerischen Leitung von Jörg Albrecht, die Burg zu öffnen. Kunst ist dabei immer der Impuls.
»Droste Digital. Handschriften – Räume – Installation«
Eröffnung am 15. September, mit Lesungen und Performances von Nora Gomringer,
Dorothee Elmiger, Anna Kpok und Hyphen-Labs.
Bis September 2023
Center for Literature
Center for Literatur – die nächsten Termine
Being Droste!
Drehbuch- und Filmworkshop in den Ferien (ab 14 Jahre)
21. bis 22. Juli, 25. bis 28. Juli
Klassenpolitik und literarische Praxis. Richtige Literatur im Falschen VII
Tagung, 17. und 18. August
Podiumsdiskussion, 17. August
Lesung/Gespräch, 18. August, mit Juan S. Guse, Dagmar Leupold, Slata Roschal
Gegenwartserde #4
Gespräch, 26. August
Botanischer Garten der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster