Der Bayrische Rundfunk hatte mal wieder keinen Bock. Mitte der 80er Jahre entwickelte Hans W. Geißendörfer die Idee einer wöchentlichen Serie, die das alltägliche Leben mit seinen gesellschaftlichen und politischen Facetten zeigen sollte – fernab der Schwarzwaldklinik-Idyllen. Seine Inspiration war seine eigene Kindheit in einem Mehrfamilienhaus und die britische Fernsehserie »Coronation Street«. Geißendörfers »Lindenstraße« sollte in München spielen, für die Produktion waren die dortigen Bavaria-Studios angedacht. Doch der Bayrische Rundfunk stellte sich quer, so dass der WDR zugriff und sein Produktionsgelände in Bocklemünd für die Kulissenstraße und die Studios zur Verfügung stellte, wo seit 1985 die »Lindenstraße« entsteht.
Bei Familie Beimer
»Dass ich jemals bei einer Fernsehserie landen würde, hätte ich nicht gedacht« sagt Szenenbildner Alexander Leitzbach, der eigentlich vom Theater und Independent-Film kommt, und steckt sich einen Zigarillo an. Seit dem Winter 1988 sei er für die Serie tätig: »Dass hat sich so ergeben; das Leben kegelt. Ich fand Hans Geißendörfers Konzept, eine Serie aus dem deutschen Alltag zu erzählen, sehr spannend.« Es war auch die Chance, eine komplette Serienwelt aktiv mitzugestalten. Als Leitzbach in Bocklemünd anfing, standen grundlegende Teile der Außenkulisse bereits. Jene ikonische Architektur, die man aus dem sonntäglichen Vorspann kennt. Die linke Straßenseite mit dem Haus Nummer 3, der Urzelle der Familien Beimer und Zenker.
Gegenüber das Eckrestaurant Akropolis und der Supermarkt, am hinteren Ende die Villa Dressler und eine erste Papp-Fassade des Astor-Kinos für den optischen Abschluss. Ein Problem war, dass man nur in diese Richtung filmen konnte; die »Kastanienallee« im oberen Bereich existierte noch nicht. Heute kann man deren angestuckte Fassade mit dem Café Bayer als die schönste Lärmschutzwand Deutschlands bezeichnen, weil dahinter in einiger Entfernung die rauschende Autobahn 1 vorbeiführt. »Je nachdem, wie der Wind steht, wird es so laut, so dass Dreharbeiten kaum möglich sind«, sagt Leitzbach. »Bei der Planung der Lärmschutzwand hat sich damals ein Plattenbau ergeben, der so groß war, dass auch bespielbare Geschäfte hineinpassten, die man in die Serie integrieren konnte.«
Nachbauten Münchener Originale
Die Fassaden der »Lindenstraße« sind Nachbauten von Münchener Originalen der 60er Jahre, eine unaufgeregt-zweckmäßige Nachkriegsarchitektur, wie man sie heute noch in vielen Straßen findet. So wohnt Deutschland. Meistens jedenfalls. Einfache Fenster, Kratzputzoptik, drei Etagen, keine Experimente. Die Fassade des Kinos wurde später neu errichtet mit Friseursalon – ohne nerviges Wortspiel – und einer Tapas-Bar. Die Wand verdeckt die dahinter liegenden Produktionsbüros und Studios mit den Kulissen-Sets der Wohnungen. Schrankwände, Sofas, Einbauküchen, Regal-Nippes – alles so normal und realistisch wie gegenüber bei den verreisten Nachbarn, bei denen man die Blumen gießt. Nur dass die Aussicht aus dem Fenster ein riesiges, unscharfes Foto der gegenüberliegenden Straßenseite ist.
Das Haus der Beimers hat vor einiger Zeit eine farbliche Auffrischung bekommen – aus ockrigen Orange wurde ein trendiges Blau-Grau. Die bauliche, verdichtete Grundstruktur der »Lindenstraße« ist durch die Jahrzehnte gleich geblieben, dafür haben sich die Geschäfte verändert. Gründe dafür sind der Zeitgeist und die dadurch geprägten Erzählstränge der Drehbücher. Der klassische »Supermarkt«, dessen blau-gelbe Typografie an eine Edeka-Filiale erinnerte, wurde nach geschlagenen 30 Jahren in einen Discounter der fiktiven »Naro«-Kette verwandelt. »Die Inhaber des Blumenladens haben laut Script irgendwann angefangen, regionales Gemüse zu verkaufen, da war Bio noch gar keine Marke«, erinnert sich Leitzbach.
Später folgte an dieser Stelle mit der »Aloisius Stub’n« ein bayrischer Imbiss. »Ich hätte das Ganze gerne noch bayrischer gestaltet, aber als ich in den Drehbüchern las, dass dort später Döner verkauft werden sollte, weil Murat den Laden übernimmt, haben wir das Set als neutrale Imbissbude eingerichtet.« Leitzbach baute alles eine Spur kleiner als die Realität, damit Schauspieler und Technik hineinpassten. »Das Akropolis, das griechische Restaurant, hat sich auch ständig verändert, obwohl ich persönlich da nicht so glücklich mit war. Eine alte, bayrische Eckkneipe verträgt das Auge eben besser als Marmortische und Designstühle. Aber wie es momentan aussieht, finde ich es gut. Laut Drehbuch kommen jetzt auch Gäste, die vegan essen wollen. Das ist einer der Versuche, den Zeitgeist einzubinden.« Das gilt ebenso für Läden wie der Bio-Supermarkt von 2013 bis 2017, das Event-Reisebüro »Träwel und Iwents« (2010-2016) und die neue Shisha-Bar.
Nicht mehr typisch münchnerisch, wie zu Beginn
»Über die Jahre ist die ›Lindenstraße‹ immer mehr BRD geworden« ergänzt Alexander Leitzbach. »Das ist alles nicht mehr typisch münchnerisch wie zu Beginn. Wir haben auch keine Darsteller wie Annemarie Wendl (Else Kling) mehr, die klassisch bayrische Figuren waren. Mit Johannes (Felix Maximilian) und Adi (Philipp Sonntag) haben wir zwar aktuell zwei bayerisch sprechende Figuren. Aber es ist schwierig, den Menschen eine spezielle visuelle Vita mitzugeben. Dafür sind wir immer internationaler geworden, wie die ganze Gesellschaft im realen Leben.«
Für seine Arbeit als Szenenbildner wälzt Leitzbach keine Möbelhaus-Kataloge: »Es gibt Kollegen, die recherchieren richtig. Ich gehöre zu der alten Schule, ich erfinde mir das«, sagt er schelmisch. »Natürlich informiere ich mich, aber ich stelle mir diese Dinge aus den Versatzstücken gern selber zusammen.« Nichts taugt dabei mehr zum Vorbild als die Realität: »Früher bin abends durch Köln gelaufen, wenn die Fenster erleuchtet waren. Das war für mich immer eine große Inspiration. Machen sie das heute mal bei diesen Neubau-Designwohnungen – die sehen alle gleich aus. Wie aus dem Prospekt der Wohnungsbaugesellschaft.«
Stattdessen orientiere er sich am Alltag, sagt er und ergänzt: »Ich habe es lieber, wenn alles stilistisch etwas verwischt ist. Ein Szenenbild soll nicht die Ausstellung des schwedischen Möbelhauses sein. Und auch keine Serienarchitektur in dem Sinn, dass man alles optisch möglichst homogen baut, damit es schön aussieht. Ich will die Brüche haben! Im echten Leben entdecken die Leuten ein neues Sofa, sie stellen es sich hin und es passt überhaupt nicht zum Rest der Einrichtung. So ist das eben – Wohnzimmer werden meist nicht von einem Innendesigner gestaltet. Die Figuren sollen selbst entscheiden, dadurch wird es auch lebendig. Es ist nicht mein Anspruch, hier große Schönheit herzustellen, sondern möglichst nah an der Realität zu bleiben.«
Fiktive Realität
Dennoch bleibt die »Lindenstraße« eine fiktive Realität. Wenn die Beimers endlich eine neue Einbauküche bekommen, endet das schon mal in Fan-Protesten. Und wegen kostspieliger Bild- und Markenrechte hängen in den Schaukästen des Kinos nur Plakate von Filmen, die Geißendörfer gedreht hat oder an denen der WDR beteiligt war. Markennamen müssen abgeklebt oder unbenannt werden, was im Falle des »Ziegenstädter Kellerbier« zu einer hübschen Hommage an Hans W. Geißendörfer führte.
Im März 2020 wird die letzte Folge der »Lindenstraße« gesendet. Was mit den Kulissen passiert, ist derzeit noch offen. Mit spektakulären Enden wie einer Zombie-Apokalypse oder einem Meteroiteneinschlag ist nicht zu rechnen. Für den Schlussspurt wagen die Macher dennoch einmal Neues. Das Haus neben den Beimers soll abgerissen werden, weil Investoren dort ein modernes Design-Hotel errichten wollen. Das führt zu Verwerfungen zwischen den Bewohnern der »Lindenstraße« – inklusive der Gründung einer Bürgerinitiative durch Klaus Beimer (Moritz A. Sachs) und militanten Aktionen gegen den Showroom des Investors. »Vielleicht hätten man damit ein wenig früher beginnen sollen«, sagt Alexander Leitzbach mit Blick auf das nahende Ende der Serie. »Denn die damit verbundenen Geschichten, die wir erzählt hätten, wären spannend gewesen: Die Mieten steigen, das Umfeld verändert sich und die Bewohner auch.« Es wäre auch für die Serie eine Chance für einen radikalen Umbau und Neuanfang geworden. Wobei – was ist schon eine herkömmliche Zombie-Apokalypse gegen die Verheerungen der Gentrifizierung?
Zum Sendeschluss ist ein Fotoband im Kettler Verlag erschienen – mehr dazu in unserer Fotostrecke.