TEXT: ANDREAS WILINK
Vorsicht, Steinschlag! Geröll, große und kleine rundliche Brocken kullern über die Bühne der Jahrhunderthalle. Sie liegen eine kurze Weile da und werden von jungen Leuten in schwarzen Overalls wieder entsorgt. Es sind die in Komparsen und technisches Personal aufgeteilten »Assistenten«. Wo sonst der Bühnenbetrieb eher verschämt seine Innereien freilegt und Umbauten vor aller Augen lieber husch-husch praktiziert, gehören hier die vorbereitenden Maßnahmen, Montage und Demontage, zum Prinzip und sind Teil der Aufführung, während parallel schon jemand singt oder Musik von irgendwoher erklingt.
Auf die nackte (künstliche) Natur der Steine sollen eine güldene Sonne, eine elegante schwarzweiße Säulenhalle, der farbige Theaterprospekt eines Höllenschlunds folgen und so weiter. Deine, meine und Europas Opern: Diese Mehrdeutigkeit enthält, lässt man es sich phonetisch im Munde zergehen, der Titel »Europeras«, die fünfteilige Werkserie von John Cage. In Teil 1 & 2, mit der die Ruhrtriennale ihre elfte Saison eröffnet und damit erstmals seit der 1987 vom Brand des Opernhauses geradezu symbolhaft betroffenen Uraufführung in Frankfurt am Main dieses Werk szenisch gestaltet, wird das Repertoire des klassischen Opernbetriebs des 18. und 19. Jahrhunderts im Schleudergang verwirbelt. Danach holt sich der Zyklus aus dem Fundus Wagner und Mozart, um zum Finale das Verfahren der Reduktion noch zu steigern und mit nur einem Pianisten, einem Grammophon-Player und zwei Interpreten ein Spiel zu treiben.
Im Moment hangeln sich fünf Assistenten am Seil durch der Hölle Rachen, der sich vermutlich für Mozarts »Zauberflöte«, aber vielleicht auch für Monteverdis »Orfeo« aufsperrt. Gewissermaßen hängen sie auch am Faden des Strippenziehers Goebbels bzw. des Ausstatters Klaus Grünberg, zuständig für Bühne, Licht und Video. Zehn Opernsänger, 30 Instrumentalisten und ebenso viele »Assistenten« werden Cages »garden of images« kultivieren und fleißig umtopfen. Die Spielregeln lauten: »Alle einzelnen Elemente und Parameter sind unabhängig voneinander.« Nicht nur Musik, Arien und Klang, auch Bühnenbild, Requisiten, die aufwändig entworfenen Kostüme, Licht und Bewegung treffen sich, koordiniert von der Regie, im Raum zu Wechselwirkungen. Mitwirkender bei der semantisch offenen Durchführung ist auch der Computer, der die Lichtordnung bestimmt und sich gelegentlich sogar »zerstörerisch« für die szenische Situation einschaltet. Grünberg nimmt’s gelassen.
Man kann das Prinzip vergleichen mit dem Kontrapunkt in der Polyphonie und der Gleichwertigkeit autonomer Stimmen, übertragen aufs Theater. Da haben wir die Idee des Gesamtkunstwerks, die keineswegs mit dem Repräsentanten Richard Wagner abgetan ist. Ebenso lassen sich Duchamp, Klee und eben Cage aufrufen.
Wie von Cage gewohnt, herrscht der Zufall. Er hat einen Vater – das chinesische Orakel I Ging, das als Buch der Wandlungen das Veränderliche, Fluktuierende, Dynamische zeichenhaft zum Muster erhebt. 64 Quadrate bilden das Grundraster und Schema für den Ablauf, der gleichwohl ohne Festlegung nicht auskommt. Schließlich sei Cage, schränkt Goebbels ein, »kein Fundamentalist« gewesen: »Es gab auch Entscheidungen, die kamen von außen.« Heißt: Die Reihenfolge ist einmal gesetzt. Eine ganz und gar freie Macht des Schicksals waltet nicht. Der Zufall wird mitgedacht – damit auch kalkuliert und etwas ausgetrickst. Wie sonst sollte man auf ein Resultat hin proben! »Fingierte Zufallsdramaturgie«, nennt es jemand im Team. Und die Uhr läuft sichtbar mit: Ein Timecode dokumentiert für den Zuschauer das Verrinnen der Zeit.
Was sich bei Cage vollzieht, findet bei Heiner Goebbels wiederum – durchaus romantischen – Nachhall, wenn er sagt, Musik sei nicht nur das, was man höre. Um dann gern Meyerhold mit dem Wort zu zitieren, Regisseure müssten vor allem Musiker sein, wenn es darum gehe, das Unsagbare zu gestalten.
Zwar erfahren das Narrative, zeitliche Struktur, lineare Chronologie und musikantische Tradition ihre Negation, nicht aber die Gattung selbst, zu der sich Cage in ein amouröses Verhältnis setzt. Es findet ein ungedrehter Kulturaustausch statt. Cage sagt es so: »200 Jahre schickten uns die Europäer ihre Opern, jetzt schicke ich sie ihnen alle wieder zurück.« Das Material von 101 Orchesterpartituren hatte er in der Bibliothek der New Yorker Metropolitan Opera studiert, dann montiert und gesampelt, ohne selbst eine Note im ursprünglichen Urheber-Sinn komponiert zu haben.
Da begegnen sich Cage und Goebbels, der methodisch in seinem kompositorischen Schaffen Sammler ist und mit dem Zitieren »nie Satire, Ironie oder Denunziation« beabsichtigt. Es sei vielmehr der Versuch, »etwas aufzuheben, weiterzugeben, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen«.
»Europeras« hat ideale Maße für das Festival an der Ruhr, bei dem die Räume gegenüber den Stücken Autonomie behaupten und einfordern, wo Guckkastenbühne, prächtig gerahmte Portale, Parkett und Pompöses fehlen. Allerdings: Ein roter Vorhang wird als Bildzitat auch mal vor die Szene gezogen sowie das Panorama des Münchner Cuvilliés-Theaters illusionär herbeigezaubert.
Das auf Stücke und Stoffe bezogene Vielstimmige, Fragmentarische und Perspektivreiche, von Gerard Mortier mit dem Markennamen »Kreation« gestempelt, radikalisiert Goebbels’ »International Festival of the Arts« zur Kontaktstelle für die Kunstformen. Mortiers Präambel für die Verfassung der Triennale hatte, während anderen gleich fix der »Ring« und die direkte Konfrontation mit dem Industriezeitalter eingefallen wären, Wagner und das traditionelle Opern-Repertoire des 18. und 19. Jahrhunderts ausgeschlossen. Nicht ohne gelegentlich mit Mozart, Verdi, Schubert, Berlioz rückfällig zu werden, wenngleich in aufgerauten Formaten und widerständigen, an der Realität gehärteten Kontexten.
Goebbels stimmt dem Verdikt seines Vorgängers zu, findet, dass »hier eine theatrale Geste, ein pastoraler Ton, eine aus der Operngeschichte herrührende Dramatik seltsam fehl am Platze wirken« würden. Die Jahrhunderthalle in ihren gewaltigen, aber variablen Dimensionen erzählt ihre Geschichte von allein. Das gilt für »Europeras« ebenfalls. Goebbels: »Da erzeugen die aktuellen Diskussionen über den Zustand Europas gewiss eine Resonanz und schwingen assoziativ mit, aber wir werden dazu nicht irgendwelche Pointen inszenieren. Das hätte Cage uns auch verboten.«
Prima materia also bietet die Halle. Während Cage zweidimensional denken musste, denken die Triennale-Macher räumlich. Insbesondere Klaus Grünberg, der schon viele magische Räume und Projektionsflächen für Goebbels (häufig auch für den Regisseur Barrie Kosky) entworfen hat. Er zeigt auf seinem Laptop einige seiner Bildfindungen, die er auf einem Modell 1:50 maßstabgerecht vorbereitet hat – etwa ein orientalisches Zelt, fallendes Laub und Rousseau’sches Urwald-Grün. Er spricht über seine »fast schon beängstigende Freiheit« bei diesem Projekt und suggestiv manipulative Wirkungen mit Überblendungen und gemalten Schatten. Einem Peter Greenaway und seiner synthetischen Kunst mit ihren Verweissystemen und Kodifizierungen würde das Vergnügen bereiten.
»Der Wiedererkennungswert ist bei der Oper immer historisch«, überlegt Grünberg – das habe ihn gestört. Andererseits bietet gerade die Barockoper, wo sie groß auffährt und es im Getriebe rumpeln lässt, prächtige Effekte: »Europeras« produziert zum Beispiel einen biblisch großen Fisch, einen Schiffskörper und Wolken-Tüll. Immer muss die Weite und Tiefe des Raums mit seinen hundert Metern, die der Blick des Zuschauers von der Tribüne zurückzulegen hat, bedacht sein: Wie wirkt aus dieser Distanz der griechische Tempel, wie das gotische Kirchenschiff, wie die zwischen de Chirico und Escher changierende Piazza?
Alexander Kluge schreibt einmal schön, er sehe keinen Grund, »dem Publikum den Ernstfall vorzuenthalten«. Parallel heißt es im Begleittext zum »No Education«-Angebot für Kinder während der Triennale: »Es gibt keinen Grund, einem Zuschauer Komplexität zu ersparen«. Heiner Goebbels propagiert eine ohne Voraussetzung funktionierende Kunst und Kunstauffassung, die auf den Betrachter oder Zuhörer als Souverän setzt und ihm die Fähigkeit zutraut, Erfahrungen jenseits von Spezialistentum und didaktischer Anleitung zu machen. Das hat mit Goebbels’ Überzeugung zu tun, dass der entscheidende Punkt für die künstlerische Erfahrung darin bestehe, »für das Wahrgenommene keinen Begriff mehr zu haben, wodurch sich die Wahrnehmung besonders sensibilisiert und unmittelbar berührt und inspiriert«.
Die Spur der Steine kann sehr fein sein.
»Europeras 1 & 2«: 17., 19., 21., 29. und 31. August sowie 2. September 2012; »Lecture on Nothing« – Robert Wilson liest John Cage: 22. und 28. August 2012, jeweils Jahrhunderthalle Bochum. www.ruhrtriennale.de