// Achtung! Augen auf, Ohren zu! Diese Ausstellung hat Nebenwirkungen. Was im Bonner Haus der Geschichte zu hören ist, ist herz- und hirnerweichend. Wolfgang Petry würde wohl sagen: »Das ist Wahnsinn!« Ja, es ist wirklich die Hölle. Man bekommt sie selbst Stunden später einfach nicht mehr aus dem Kopf: All die rot im Meer versinkenden Sonnen, die weinenden Mütter, singenden Schlümpfe und toten Bäume, den blau blühenden Enzian, Andrea Doria, Santa Maria, und Paloma Blanca. Selbstver- ständlich gibt es auch tosende Stürme, tobende Meere, furchtlose Matrosen, auf die zuhause schmachtende Mädchen und sorgende Mütter warten.
Wer vor einer derartigen Dudelei nicht dankbar in die Knie geht, muss den Gehörgang auf der Reise durch das Jahrhundert des Schlagers mit dem Wachs der kritischen Theorie verstopft haben. Schlager, so der stilistische Zwölftonmusiker Theodor W. Adorno in seiner »Einleitung in die Musiksoziologie«, appellierten an eine »lonely crowd«: »Sie rechnen mit Unmündigen; solchen, die des Ausdrucks ihrer Emotionen und Erfahrungen nicht mächtig sind; sei es, daß Ausdrucksfähigkeit ihnen überhaupt abgeht, sei es, daß sie unter zivilisatorischen Tabus verkrüppelte. Sie beliefern die zwischen Betrieb und Reproduktion der Arbeitskraft Eingespannten mit Ersatz für Gefühle überhaupt, von denen ihr zeitgemäß revidiertes Ich-Ideal ihnen sagt, sie müßten sie haben.« Soweit die ideologiekritische Perspektive auf das, was leichte Musik mit Menschen macht, die von der Sozialphilosophie noch nicht in den Stand der Mündigkeit erhoben worden sind.
Die Produzenten von Liedern, die Millionen durch ihr Leben begleiten, sehen ihr Tun weitaus weniger klar. 1926 etwa versuchte sich immerhin der »Im weißen Rössl«-Komponist Ralph Benatzky daran, das Geheimnis des Schlagers offen zu legen – vergeblich. Ins Ohr gehen müssen die Lieder, doch nicht zu sehr. Die richtige Länge oder Kürze sollte das Opus haben. Doch vor allem aber wohl »Chance und tausend andere Imponderabilien, die sich nicht klären lassen.«
Selbst die großen Strippenzieher und Stichwortgeber vor und hinter den unterhaltungsindustriellen Schlagerkulissen bewegen sich im Ungefähren, wenn sie darüber sprechen sollen, was einen Schlager auszeichnet. Dieter Thomas Heck, dessen 2007 tränenreich zu Ende gegangene Show »Melodien für Millionen« die Bonner Ausstellung ihren doppeldeutigen Titel entliehen hat, versucht es im Ausstellungskatalog so: »Einen Schlager höre ich, trällere ihn vor mich hin und habe ihn morgen schon wieder vergessen. Schlager ist kurzweilige, schöne Musik, die mich für einen Moment glücklich macht.« Ganz anders bringt es Frank Ramond, Textschreiber für Roger Cicero und Annett Louisan, auf den Punkt: »Schlager ist jedes deutsche Lied, das es nicht geschafft hat, sich in eine andere Nische einordnen zu lassen.« Oder Hans R. Beierlein, Manager von Branchengrößen wie Udo Jürgens und Heino: »Wir schaffen Lebensfreunde, und die Welt braucht Lebensfreude.«
Beierlein beim Wort genommen, ließe sich vermuten, dass, je moderner die moderne Welt wird, »kurzweilige, schöne Musik« desto unvermeidlicher ist. Je unübersichtlicher die Dinge, je komplizierter das Leben, desto besser also sind die Zeiten für harmonische Lieder, die uns »So a Stückerl heile Welt« herbei singen? Der Blick auf die Verkaufshitparaden sieht etwas ganz anderes. Auf Deutsch gespendeter Trost ist in schlechten Zeiten kaum noch gefragt. Schon Mitte der 1960er Jahre verabschieden sich die hiesigen Interpreten zunehmend von den vorderen Platzierungen. Heck, der die Hitparade nicht internationalisieren wollte, blieb erspart, englisch singende Interpreten anzumoderieren. Das machte – drei Jahre später und seiner Zeit schon reichlich hinterher – Viktor Worms. Doch schon als der Mann, der mit bürgerlichem Namen Carl-Dieter Heckscher hieß, sich 1984 von der Hitparade verabschiedete, war der deutsche Schlager kommerziell dramatisch eingebrochen. 1980 finden sich unter den 30 meistverkauften Titeln mit Roland Kaisers »Santa Maria« und Mike Krügers »Der Nippel« lediglich noch zwei deutschsprachige Hits.
Doch als Rückblick versteht sich »Melodien für Millionen« nicht. Andrea Berg ist am Ende des Parcours der lebendige Beweis dafür. Andrea Berg? So nennt sich die Frau, die mit Strapsen, Overknee-Stiefeln und Minirock Hits wie »Du hast mich tausendmal belogen« oder »Wenn Du mich willst, dann küss mich doch« zum Besten gibt und damit alle Verkaufsrekorde bricht. Dass der Künstlername Andrea Berg dennoch weit weniger nach großer leichter Unterhaltung klingt als etwa der eines Udo Jürgens oder einer Catarina Valente, liegt wohl nicht nur an der musikalischen Qualität der Darbietung. Mehr noch sind die Gründe wohl in der Ausdifferenzierung des Musikmarktes zu suchen, auf dem die Schlagerindustrie heute Nischenprodukte vor allem für ältere Generationen bereithält.
Fasslich wird das »Jahrhundert des Schlagers« in Bonn bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert, als zahlreiche Operettenmelodien beim Publikum »einschlugen«. Seitdem definiert sich der Schlager über seine Erlöse: Verkaufen muss sich, was Schlager sein will. Wenngleich sich mit dem Begriff im 20. Jahrhunderts auch ein inhaltlich schwer exakt zu definierendes Genre bezeichnen lässt, halten sich die Ausstellungsmacher bei der Konturierung ihres Gegenstandes vornehmlich an den Warencharakter der Musik. Folgerichtig interessiert man sich für die Techniken des Vertriebs und der Vermarktung, für Abspielmöglichkeiten, Marketing und Produzenten. So mischt sich in die Kulturgeschichte der Industriegesellschaft immer auch die der Technik. Denn es sind nicht zuletzt Distributionswege, die darüber entscheiden, was in Wohnzimmern mitgesummt und im heimischen Plattenregal gesammelt wird.
Mit Inkrafttreten des musikalischen Urheberrechts 1902 und der Entstehung der ersten deutschen Verwertungsgesellschaft im Jahr darauf bilden sich, so Hanno Sowade im materialreichen Ausstellungskatalog, kurz nach der Jahrhundertwende Strukturen moderner Musikverwertung aus, bevor die Musikindustrie in den 1920er Jahren dann goldene Zeiten erlebt. Zwischen 1907 und 1930 steigert sich der Verkauf von Schallplatten von 18 auf 30 Millionen Exemplare. Robert Steidl lieferte 1922 mit »Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen« eine Inflationshymne, ein, so Kurt Tucholsky damals, Volkslied im besten Sinne, das von dem handelte, was die Herzen bewegte: Hypotheken. Ende der 1920er stiftet der Tonfilm dann ein enges Band zwischen den Schlagern und ihren Interpreten und bereitet so dem Starkult den Weg. Lilian Harvey ist plötzlich »Das süßeste Mädel der Welt« und der »deutsche Caruso« Richard Tauber singt: »Ich glaub’ nie mehr an eine Frau«. Die massenweise Verbreitung von Volksempfängern in der Zeit des Nationalsozialismus erschließt in den 1930ern nicht nur der NS-Propaganda, sondern auch der Unterhaltungswirtschaft viele neue Ohren. Schließlich geht mit Musik alles besser, auch das Geschäft, wenn auch nur für jene, die nicht unter die Rassengesetzgebung fallen.
Aufbereitet wird die Geschichte des Schlagers im Haus der Geschichte anhand von mehr als 1.500 Exponaten und auf mehreren kleinen Bühnen, auf denen jeweils die digitale Variante einer Musicbox steht. Insgesamt über 1.000 Titel samt dazugehörigen virtuellen Covern stehen hier zur Anwahl bereit, darunter auch Stücke von Gruppen wie Tocotronic, die, wenngleich kommerziell leidlich erfolgreich, gerade gegen das schnell Verdauliche anmusizieren und ihre Texte mit all dem beschweren, was leichter Unterhaltung doch gemeinhin abträglich ist. Doch derartige konzeptionelle Unschärfen fallen angesichts des Materialreichtums, der die Ausstellung auszeichnet, wenig ins Gewicht.
Während auf den Bühnen im inneren Ausstellungsraum durch emotional besetzte Objekte und Musik an die Erinnerung appelliert wird, erschließen die sie umgebenden Kulissen schlaglichtartig die sozialen, wirtschaftlichen und technischen Zusammenhänge. Über dieses etwas unübersichtliche Gewirr von Stellwänden, Gängen und Räumen erhoben, thront auf der nachgebauten Zuschauertribüne der ZDF-Hitparade Udo Jürgens gläserner Flügel und die hohe Schlagerzeit der 1970er Jahre.
Doch der vielleicht bemerkenswerteste Abschnitt widmet sich der Politisierung des vermeintlich apolitischen Schlagers. Dabei ist es weniger die willfährige Erfüllung nationalsozialistischer Propagandaziele seitens der Musikindustrie, die es hier zu entdecken gilt. Weit weniger bekannt dürfte heute der Umgang mit der Unterhaltungsmusik in der DDR sein. Wer sich im Haus der Geschichte diesem Kapitel nähert, findet sich zunächst mit dem westdeutschen Schlagerstar Michael Holm auf der Straße nach San Fernando wieder. Doch noch bevor Holm sich dem Girl aus Mendocino und das Lied somit seinem Höhepunkt nähern kann, wird es von einem Störsender unterbrochen. Von 1959 bis in die 1970er Jahre hinein versuchte die SED so den Grenzübertritt kapitalistischer Unterhaltung einzuschränken.
Während das unstillbare Fernweh der Nachkriegszeit die Westdeutschen musikalisch vorzugsweise nach Italien reisen lässt, versuchen die Kulturpolitiker der SED die heimische Unterhaltungsmusik auf einen Mittelweg zwischen Broadway-Kitsch und Leitartikelschlager zu führen. Zwar dürfe »Liebe und echtes Lebensglück« durchaus verhandelt werden, doch, so lässt die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten 1953 verlauten, ist eine »Traumfabrikation« unerwünscht.
Die Quotierung westlicher Musik im DDR-Rundfunk steigert künstlich die Nachfrage nach heimischen Produkten, »wirkungseffektive Hörmusik bei sozialistischer Thematik« erfreut sich dennoch eher einge- schränkter Beliebtheit. Hits wie »Ein kleines Bild von Dir« oder »Es gibt keinen anderen« zählen, so ist dem Katalog zu entnehmen, 1965 zu den beliebtesten – Titel, die sich von denen westdeutscher Schlager nicht unterscheiden. Sieben Jahre später wird auf einer »Tanzmusikkonferenz« dann der Beschluss gefasst, auf Jazz, Beat und Folklore nicht mehr zu verzichten, nur »weil die imperialistische Massenkultur sie zur Manipulation der ästhetischen Urteilskraft im Interesse der Profitmaximierung« missbrauche, woraufhin die großen Jahre des DDR-Rocks anbrechen. Kurz vor dem Mauerfall und zu spät kommt man dann von offizieller Seite zu der Einsicht, dass es »Unterhaltung im Sozialismus« braucht, keine didaktisch aufbereitete Unterhaltungsmusik. Wer die Wirklichkeit mit Schlagern beeinflussen will, muss, egal ob im Westen oder Osten, nun mal den Umweg über die »Traumfabrikation« nehmen. Hossa! //
»Melodien für Millionen. Das Jahrhundert des Schlagers«, bis 5. Oktober 2008 im Haus der Geschichte, Bonn. Der überaus empfehlenswerte Katalog kostet 19,90 Euro. http://www.hdg.de