Auf der Rheinschiene fährt der Orientexpress. Noch bis Mitte Dezember findet in den Städten des Kulturbündnisses »rhein land ag« – Bonn, Köln, Düsseldorf und Duisburg – ein Festival statt, das sich einer unserer größten Herausforderungen und schönsten Versuchungen widmet: dem Orient. »der neue orient« heißt die Reihe, so gleichermaßen Neugier weckend wie Ängste beruhigend. In zirka 190 Veranstaltungen der bildenden Kunst, des Films, der Literatur, der Musik – traditionelle und Weltmusik –, von Tanz und Theater sollen wir Aspekte der Kultur zwischen Marokko und Afghanistan kennen und ihre Reize lieben lernen. Um am Ende das Resümee zu ziehen, dass der Orient so anders gar nicht ist. Oder doch? Auf Überraschung durch Ähnlichkeit setzt die Ausstellung »Sprachen der Wüste« im Kunstmuseum Bonn, die erstmals den Umgang golfstaatlicher Künstler mit der Moderne zeigt. Auf Überraschung durch Fremdheit hofft die abschließende Reihe »Islam«, die nicht verbergen wird, dass auf religiöser Grundlage Verständigung kaum möglich ist.
Dieser Auffassung ist auch der Kölner Islamwissenschaftler Stefan Weidner, mit dem wir aus Anlass des Festivals ein Gespräch über Nähe und Ferne islamischer Kultur geführt haben. Dass sich aus dieser Spannung der schönste Funken schlagen lässt, beweist ein Tanzprojekt, das eine deutsche Choreografin im Iran verwirklicht hat; ein Beitrag zum »neuen orient«, den wir auf den folgenden Seiten vorstellen.
Interview: Ulrich Deuter
K.WEST: Das Festival nennt sich »Der neue Orient «. Gibt es ein Phänomen dieses Namens? Oder nur ein neues westliches Bild vom Orient?
WEIDNER: Der Titel ist sicher gewählt worden, um klar zu machen, dass in der islamischen Welt sehr rasante Veränderungen passieren. Die sich, mit einer gewissen Verzögerung und Verzerrung, zwar auch in der Kultur spiegeln, aber noch nicht ins Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit gelangt sind. Was aber genau als der neue Orient zu definieren wäre, ist schwer zu sagen. Hätte ich für mich selbst ein Programm »neuer Orient « zusammengestellt, hätte ich als Spezialist viel, viel jüngere, unbekannte und hierzulande unentdeckte Kultur eingeladen. Was hier präsentiert wird, ist dennoch für die meisten Besucher sicher Neuland. Und ist auch immer noch die lebendige Kultur des Orients. Allerdings nicht das, was für den Orientalen selbst als ganz neu durchgehen würde. Weil zu viele Bekannte und – was die Literatur betrifft – auch schon etwas Ältere dabei sind. Aber ganz Junge, Unbekannte einzuladen, zieht große organisatorische Probleme nach sich.
K.WEST: Was würde die noch neuere Kultur des Orients denn ausmachen?
WEIDNER: In der Literatur wären das junge Autoren, die gar nichts mehr von dem auszeichnet, was wir klassischerweise mit »Orient« verbinden – etwas was die meisten der jetzt Eingeladenen auf großartige Weise besitzen, Adonis oder Ibrahim al-Koni etwa. Also Schriftsteller, die die gesamte Tradition noch kennen. Dagegen existiert eine junge Szene, d ie sich im Samisdat, in entsprechenden Literaturzeitschriften umtut, die im Internet an der Zensur vorbei aktiv ist – das alles lernen wir auf diesem Festival nicht kennen.
K.WEST: Kann man sagen, dass diese jüngere Literatur westlicher ist? Oder ist das der falsche Begriff?
WEIDNER: Sie ist unarabischer, globaler. Zu dieser jüngeren Literatur würden auch Autoren zählen, die in westlichen Sprachen schreiben, sei es, weil sie nach hier ausgewandert sind, sei es, weil sie beispielsweise in Kairo an der American University studiert haben und Englisch viel besser beherrschen als Hocharabisch. Das Sie selbst als arabischer Muttersprachler lernen müssen, und das ganz anders ist als Ihr Dialekt. Oder Schriftsteller, die gerade in diesem Dialekt schreiben. Auf diese Weise entsteht im Orient eine Kunst, die dynamischer ist, beweglicher, näher am Puls der Zeit als die Literatur, die auf Hocharabisch verfasst wird.
K.WEST: Das Festival möchte, dass wir uns neben der orientalischen Kultur auch mit dem Islam beschäftigen. Nun haben wir es mit Mühe geschafft, unsere Religion, das Christentum, zu zivilisieren. Wieso sollten wir uns jetzt wieder mit einer anderen archaischen Hirtenreligion auseinandersetzen?
WEIDNER: Jede Religion ist wahrscheinlich so archaisch, wie die, die sie praktizieren. Das Schöne am Islam ist, dass Sie dort alles haben: den archaischen Hirten, den Beduinen, den physisch in der Stadt, geistig tief auf dem Land Lebenden, aber auch den postmodernen Avantgarde-Muslim, der dennoch ein überzeugter Anhänger seiner Religion ist. Warum sollten wir uns mit dem Islam beschäftigen? Nun, erstmal ist der Islam einfach da: in Form der Einwanderer, in Form des Terrorismus. Und dann natürlich auch in Form unserer eigenen Expansion in die islamische Welt: Wenn wir Erdöl haben wollen, müssen wir uns wohl oder übel mit islamischen Ländern herumschlagen. Außerdem hat der Westen eine lange Geschichte der eigenmächtigen Penetration der islamischen Welt, die von dem, was heute passiert, nicht zu trennen ist. Wenn wir gezwungen sind, dem Islam zu begegnen, dann verdanken wir das auch unserem vormaligen eigenen Verhalten.
K.WEST: Wir machen auch Geschäfte mit China. Die Forderung, sich mit dem Konfuzianismus zu beschäftigen, ist aber in der Öffentlichkeit noch von niemand erhoben worden.
WEIDNER: Wir haben eben nicht so viele chinesische Gastarbeiter. Der Mittelmeerraum aber liegt vor der Haustür, ist geografisch und historisch gesehen unsere Kultur, und damit ist es auch der Islam.
K.WEST: Ist die Gleichsetzung von Orient und Islam überhaupt zulässig?
WEIDNER: Sie stimmt, wenn Sie unter Orient die arabischen Ländern, Iran und die Türkei verstehen. Nun ist der Islam aber starken Einflüssen von Reformdenkern ausgesetzt, die im Westen selber leben. D.h., der Islam wird auch bei uns gemacht.
K.WEST: Als wie groß schätzen Sie den Einfluss der hier lebenden islamischen Reformer ein? WEIDNER: Es gibt ihn als intellektuelle Strömung, vielleicht auch nur als Rinnsal. Aber es gibt ihn nicht als Einfluss auf die Massen. Nicht als ein Instrument, das politisch, sondern eher akademisch, intellektuell wirksam wird.
K.WEST: Was könnte denn einen aufgeklärten, gebildeten Menschen hierzulande am Islam faszinieren?
WEIDNER: Zum einen eine Intensität des Glaubens, die wir nicht mehr kennen. Was etwas Unheimliches und etwas sehr Faszinierendes hat. Und dann die Bezogenheit der gesamten Kultur auf die Religion, etwas was wir seit der Neuzeit verloren haben. Die großen Denker der arabischen Philosophie sind immer die, die einen starken Bezug zur Religion besitzen. Das war bei uns zuletzt im Mittelalter so. All das ist wie eine Zeitreise: zu erleben, dass es einen ganz anderen Seinsentwurf gibt. Und wenn man wollte, könnte man da hineinspringen und wäre darin aufgehoben.
K.WEST: Das Mittelalter, in dem ähnliche Lebensentwürfe bei uns üblich waren, haben wir mit viel Blut und Tränen überwunden. Niemand will dahin zurück. Die Faszination durch den Islam kann also doch nicht anders als intellektuell und damit distanziert sein.
WEIDNER: Wie gesagt, ich halte es für eine Existenzmöglichkeit, da hineinzuspringen. Aber ich will diese Wahl nicht treffen, der Preis schiene mir zu hoch. Ich würde mein ganzes intellektuelles Rüstzeug über Bord werfen müssen. Der große Unterschied zur Faszination, die ich beispielsweise durch den Buddhismus erfahren kann, ist aber, dass wir als Gesamtgesellschaft mit dem Islam konfrontiert sind, durch unsere politischen und wirtschaftlichen Verwicklungen mit der islamischen Welt.
K.WEST: Sie schreiben in Ihrem Buch »Mohammedanische Versuchungen«, unser gewachsenes Interesse an orientalischer Kultur sei Ausdruck eines gegenaufklärerischen Bedürfnisses.
WEIDNER: Diese Tendenz sehe ich halt. Einmal auf der populärsten Ebene, in den Dritte Welt- oder Sufi-Ecken, wo der Islam der Sinnsuche oder der Flucht vor unserer überkomplexen Welt dient. Aber nicht nur dort: Von Peter Handke weiß ich, er hat Arabisch gelernt und liest muslimische Sufis. Botho Strauß interessiert sich ebenfalls sehr dafür. Martin Mosebach ist ganz fasziniert vom Islam – da können Sie eine konservative Linie ziehen. Wenn Sie im gegenwärtigen kulturellen Kosmos nach einem Gegenentwurf zur Moderne suchen, nach einer Kraft gegen die vorherrschende populistische Kultur, dann bietet sich der Islam mit seinem ganz anderen Kultur- und Seinsverständnis geradezu an. Da haben Sie eine riesige gesellschaftliche Kraft, eine alte Traditionslinie sowie ein hohes intellektuelles Niveau in der philosophischen Auseinandersetzung. So dass der Islam jeden interessieren muss, der zutiefst damit unzufrieden ist, wie wir leben.
K.WEST: Die Beschäftigung mit dem Islam steht unter dem Oberbegriff der Verständigung. Wie kann Verständigung möglich sein, wenn für die einen der Koran die wortwörtliche Offenbarung Gottes ist, während er für die anderen ein Buch unter vielen darstellt?
WEIDNER: Man kann sich über letzte Fragen nicht miteinander verständigen, wohl nicht mal über Gesellschaftsmodelle. Verständigung im Sinne eines Konsenses, eines philosophisch- politisch-intellektuellen Traktats, das dann beide gemeinsam unterschreiben, halte ich für ausgeschlossen – sofern man es mit gläubigen Muslimen zu tun hat. Daher plädiere ich dafür, von einem solchen rein intellektuellen Verständigungsbegriff wegzukommen, hin zu einem pragmatischen: Es gibt viel größere wirtschaftliche und damit verbunden politische gemeinsame Nenner, als es sie im Intellektuellen gibt. Mit dem Islam »an sich« finden Sie keine Gemeinsamkeiten. Im konkreten Fall finden Sie sie immer. //
Stefan Weidner hat zahlreiche Lyriker aus dem Arabischen übersetzt, darunter Adonis und Mahmud Darwish. Von ihm liegen die Bände »Mohammedanische Versuchungen« sowie »Erlesener Orient« vor, ein Führer durch die arabische Literatur. www.der-neue-orient.de