//»Daß er unzeitgemäß geworden sei, … ist Vorurteil und Wahn.« So schrieb Thomas Mann zum 150. Todestag in seinem großen Essay, »Versuch über Schiller«. Das war 1955, und die Jubiläums-Rede wurde gehalten in Stuttgart und Weimar. Konstellationen deutscher Geschichte, damals. Wir hatten und haben kein Schiller-Jahr. 2007 rundete sich nichts in der Biografie des 1759 geborenen, 1805 gestorbenen Dichters. Man müsste noch ein Jahr warten, bis 2009, um den 250. Geburtstag zu begehen. Doch das Fieber der Widersprüche, das sein dramatisches Werk erhitzt, scheint so akut wie nur je. Schiller ist der Zeitgemäße.
Im vergangenen Jahr wurde dreimal das große Strategiespiel, der »Wallenstein«, gegeben, in Berlin, Leipzig und Wien, auch wenn es dabei bisweilen in die »Strumpfhosendramatik« geriet, wie Andrea Breth es nennt, die vor solcher Art Lektüre und Aufführungspraxis warnt, während sie gleichzeitig in einem Interview sagte: »Man beschäftigt sich ja mindestens einmal am Tag mit der Macht von Menschen und der Ohnmacht anderer Menschen. Ich kann einfach nicht lassen von diesem Burschen, Schiller, weil er mir darüber genauer Auskunft gibt als die meisten Dramatiker von heute.«
Ebenfalls 1955 konstatierte mit Blick auf Schillers Entwicklung der Literaturwissenschafter Hans Mayer: »So entstand … deutsche Gegenwartsdramatik der damaligen Zeit in der Form eines historischen Dramas«. Die Formel gilt noch. Und wird von unserem Gegenwartstheater prägnant in den Stücken »Wallenstein«, »Don Carlos« und »Maria Stuart« angewendet, die Skepsis gegenüber jedweder staatlichen Autorität hegen und Vertrauenskrisen heraufbeschwören. Die romantische Apotheose der »Jungfrau von Orléans« oder die nationale Erhebungs-Ballade des »Tell« stiften solche Kontinuität des Zweifels kaum. Schillers »Zwitterart«, wie er selbst sich in einem Brief an Goethe von 1794 charakterisiert, beobachtet Hans Mayer sodann in dessen »Gleichzeitigkeit der Beschäftigung mit spekulativer Philosophie und geschichtlicher Empirie«.
Andrea Breth, die »Wallenstein« für das Burgtheater vorbereitet hatte, jedoch aus Krankheitsgründen absagen musste, hatte im April 2004 »Don Carlos« auf die Wiener Bühne gebracht. Im Madrid Philipps II. von Spanien deckte sie den Überwachungsstaat auf, zu dem sich auch das Königreich England unter Elizabeth I. verwandelt. Wir erleben Götterdämmerungen. »Kalt, finster und trotzdem zum Weinen schön«. So Breth in ihrer Schiller-Rede zur Verleihung des Berliner Theaterpreises 2006.
Das konkrete Erzähltheater besinnt sich mit Schiller und dessen Impuls, »die prostituierte Menschheit zur rächen«, auf die Schaubühne als moralische Anstalt. Er taugt aber auch für andere Spielformen, wie die Gruppe »Rimini Protokoll« zeigt. Vor drei Jahren, in ihrer durch die Lande tourenden dokumentarischen »Wallenstein«-Adaption, hat sie Figuren und Konflikte des Stückes herauspräpariert und assoziativ umbesetzt, unter anderem mit einem kommunalen CDU-Politiker, der in die Fallstricke der Partei-Intrige geriet wie Wallenstein zwischen die Fronten. Widerstand und Loyalität, Gehorsam, Treue, Lüge und Verrat bekommen da ein Alltagsgesicht.
Die moralische Anstalt Theater nimmt das klassische Drama zum Anlass, um über die politische Realität eine Aussage zu treffen, um gesellschaftliche Systemanalyse zu betreiben. So könnte, so sollte »Maria Stuart« das Stück der Stunde sein. Schiller ante portas. Jetzt auch in Bochum, wo Intendant Elmar Goerden die »Stuart« inszeniert. Die nächste Premiere folgt bereits am 29. Februar in Düsseldorf, unter Regie von Stefan Bachmann. Schauen wir uns aktuelle Deutungen der »Stuart« an.
Beispiel Hamburg, Thalia Theater. Dort verschärft Stefan Kimmig Schillers Nervenkrieg zum modernen Thriller. Englands Herrschaftsklasse hat sich einbetoniert und betreibt das Regieren als Business: Konzern Kingdom. Der Staatsfeind wird im Hochsicherheitstrakt in Gewahrsam gehalten. Ein Diktum des Staatsrechtlers Carl Schmitt, sein berüchtigtes, alarmierendes, besagt: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.« Es ist, als habe Kimmig dieses Notstandsgesetz vor Augen gehabt, wenn er mit leichthin linker Attitüde seine Regie-Instrumente gegen den Bundesminister des Inneren, ins Feld führt, und Wolfgang Schäubles Einlassungen zur Verschärfung der Gesetze der Inneren Sicherheit zum Anlass nimmt, um auf der Bühne einen Angstapparat anzuwerfen. In der schottischen katholischen Stuart personifiziert er das von ihren protestantischen Gegnern als terroristisch eingestufte Gewaltpotenzial. Kimmigs »Maria Stuart« wurde vor kurzem als beste Inszenierung des Jahres 2007 mit dem Deutschen Theaterpreis »Faust« ausgezeichnet. Es bedarf keiner Prophetie, um sie auch im Mai beim Berliner Theatertreffen zu erwarten.
Beispiel Bochum. Im Schauspielhaus kommt einem unterm Strahlenkranzwappen, das hoch droben am Bühnenportal hängt, wieder Breths Wort von der »Strumpfhosendramatik« in den Sinn. Die dreieinhalbstündige Aufführung, die es sich zwischendurch mit easy listening music gemütlich macht, hat ihrem Zuschauer nichts mitzuteilen über Welt und Wirklichkeit. Historisch manövriert sie sich ins Abseits des Kostümfundus und reißt einen Treppenwitz der Geschichte nach dem anderen, auch wenn diese in der Sprachführung des Ensembles akustisch total verpuffen. Mit der die Queens umgebenden männlichen Entourage (voran Lord Leicester, den Uwe Bohm zur Hofschranze eines Marschalls von Kalb aus Schillers »Kabale« eunuchenhaft, mürrisch, deppert hinrotzt) führt die Regie ein Schmieren- und Biedermänner-, Grinse- und Grabbelstück auf. Bleibt also der weibliche Hahnenkampf. Und da geht’s, saftig und süffig, in die Vollen. Die von Schiller moralisch ins Recht gesetzte Stuart sozialisiert Ulli Maier herab zum rustikalen Marktweib, zur zigeunerhaften Kokotte in rotem Taft mit struppiger Mähne, strotzendem Mieder und losem Maul. Das macht sie so, als wolle sie sich für einen kleinen dreckigen Ken Loach-Film bewerben.
Imogen Kogge hält es eher mit dem klassischen Hollywood. Ihre Elizabeth ist das Inbild der Staatsund Charakterschauspielerin, herrisch, hoheitsvoll, glucksend, glamourös und selbstgefällig, hochdramatisch, sprühend vor Energie, von ihrer Gefühligkeit zu Tränen gerührt, sich um sich selbst drehend und zugleich aus allem heraus windend. Darin ihrem Regisseur Goerden folgend, der sich zu nichts verhält. Seine »Stuart« liegt im Klassiker-Grab. Die »Korridore der Macht« (Carl Schmitt), die Breth in ihrem »Don Carlos« und Kimmig in seiner »Stuart« ausleuchten, interessieren Goerden nicht. Er bleibt im Leerund Hohlraum.
Schillers Figuren in ihrem heroischen Leidenspathos schauen sich selbst beim Scheitern zu: sei es Ferdinand in seiner Liebe zu Luise Millerin, die mehr Ideal besitzt als Wirklichkeit und nur deshalb ihren zerstörerischen Furor entfaltet; Fiesco in seinem geschmeidigen Ehrgeiz; die Brüder Moor und der Marquis Posa, dessen Fanatismus sich selbst ein Denkmal errichtet; der weinende König Philipp, der in einer ungeliebten Welt als letzten Ausweg den Kniefall vor der Kirche tut und über seiner Menschenverachtung das Kreuz schlägt; Maria von Schottland, die ihre Märtyrerrolle wie eine Monstranz vor sich trägt und damit ihr sündiges Leben abbüßt; Elizabeth Tudor, die – Ironie der Geschichte – wie ihr spanischer Erbfeind im Escorial in ihrem Londoner Palast von allen guten Geistern und Freunden verlassen ist. Der Schlussvers, das geflügelte Wort »Der Lord lässt sich entschuldigen, er ist zu Schiff nach Frankreich«, mit dem ihr die Abwesenheit des geliebten Leicester kund getan wird (der damit dem Geschick des künftigen Liebhabers der Queen, Lord Essex, entgeht, der auf dem Schafott endigt), kündigt der »Jungfräulichen Königin« das Schicksal des Machthabers an. Einsamkeit, in letzter Konsequenz. So ergeht es dem »Karrieristen der Gesetzlichkeit« (Thomas Mann). Von Schiller klarsichtig analysiert.
Der Mensch, auch und gerade in der Funktion als Monarch, Thron-Usurpator oder Feldherr, ist nur scheinbar Herr seiner selbst, gefoppt von der Illusion aktiven Handelns. Hier ist die Stelle, wo sie sterblich sind. Es heißt in »Wallensteins Tod«: »Wär’s möglich? Könnt’ ich nicht mehr, wie ich wollte? Nicht mehr zurück, wie mir’s beliebt? Ich müsste die Tat vollbringen, weil ich sie gedacht, nicht die Versuchung von mir wie …«
Wer so spricht – und so spricht nicht nur der Herzog von Friedland und Kaiserliche Generalissimus im Dreißigjährigen Krieg, sondern so könnten im Mindesten auch Philipp von Spanien und Elizabeth von England sprechen –, wird gewissermaßen zur Hamlet-Gestalt in der »Mischung von Reflexion und Affekt« (Thomas Mann). Die Doppelnatur des Helden in enger Vertrautheit mit der Macht, ihrer Vermessenheit und den Grenzen des Machbaren (um vom Statthaften gar nicht zu reden) – wer hätte sie wie Schiller ausgelotet. »O diese Staatskunst, wie verwünsch’ ich sie!«, ruft Max Piccolomini aus.
Der Historiker und Universitätsprofessor zu Jena sieht sich zunächst (und dann ab 1789 zehn Jahre lang) nicht als Theatermann. Seinen Geniestreich »Die Räuber« bezeichnet er als »dramatischen Roman«, »Don Carlos« als »dramatisches Gedicht«. Dabei ist der Bühnenautor Schiller berühmt – und verpönt – für seine effektreiche, filmschnittige Verdichtungs-Technik. Ein Wirkungsmechaniker, in aller hochherzigen Unschuld. Thomas Mann nennt es – neben dem Hochfliegenden seiner Ideenwelten – Schillers »Lust am höheren Indianerspiel« und findet damit implizit eine Parallele zum sächsischen Phantasten Karl May und dessen Edelmenschentum und explizit auch die zu Richard Wagner. Diese Begabung indes, der Instinkt fürs Reißerische und eine raffinierte Enthüllungspsychologie erlaubt eben auch die gedehntesten Parallelen: von der römischen Inquisition bis zum republikanischen BND.
Schiller kann klarer sagen, wie sich aus der Inhaftnahme der königlichen Schwester wider alles damalige göttliche Recht auf Erden der Staatsterror entpuppt, als Elfriede Jelinek. Deren »Ulrike Maria Stuart« bietet Stoff in Hülle und Fülle für eine knallige RAF-Revue und Polit-Farce um die Königinnen Ulrike Meinhof und lässt sich ohne weiteres im Haltungslosen des Nachgeborenen verankern.
»Schiller war, wie Montaigne, ein gedanklicher Revolutionär« (Andrea Breth), sein Verhältnis zur Revolte ambivalent. Auch wenn im Schweizertum seines »Tell« der Sturm der Französischen Revolution voraus tost, erblickte er im jakobinischen Blutregiment den »schrecklichsten der Schrecken«. Da offenbart sich der Doppelsinn von der Morgenröte der Menschheit. Der geschichtliche Moment 1789 setzte bei Schiller eine Zäsur. Ein Jahrzehnt später ist »Maria Stuart« vollendet. Nicht die Vision neuer Sittlichkeit und humaner Würde, vielmehr die Erkenntnis von der Tragödie der Macht und ihres Verfalls im Moment der scheinbar größten Ausdehnung macht Schiller zu unserem Zeitgenossen. Sein Todesjahr 1805 fällt in die Phase von Napoleons europäischen Triumphen. Neun Jahre später ist Bonaparte gestürzt und auf Elba. //