Rund 300 Quadratmeter museale Ausstellungsfläche sind für sich genommen eigentlich nicht wirklich viel. Um Literaturgeschichte auszustellen, ist das hingegen fast großzügig bemessen. Soll die sich auf Westfalen beschränken, ist ein solches Vorhaben geradezu kühn. Reichlich Vitrinenstellplätze für eine Region, die alles in allem nicht unbedingt für ihre Dichter bekannt ist. Sollte man meinen.
Natürlich: Annette von Droste-Hülshoff brachte unweit von Münster ihre Verse und Balladen zu Papier, und Christian Dietrich Grabbe kam von seiner Heimatstadt Detmold sein kurzes Leben lang nicht richtig los. Dann gibt es auch noch Karl Immermann, der in Münster als »Auditeur« wirkte. Doch sah der in Magdeburg das Licht der Welt und verstarb in Düsseldorf. Gehört deshalb sein Name in ein Museum, das sich der Westfälischen Literaturgeschichte widmet? Die Ausstellung im Kulturgut Nottbeck, in dessen Herrenhaus sich das Museum für Westfälische Literatur befindet, hat sich mit guten Gründen dafür entschieden. Auch finden sich an seiner Seite eine ansehnliche Reihe von Großdichtern, die mit Westfalen in Verbindung zu bringen noch schwerer fällt: allen voran Goethe, der 1792 Münster bereiste, fünf Jahre, nachdem Hamann dort empfangen wurde; zu einer Zeit, als sich Fürstin Amalie von Gallitzin nicht nur mit Rousseau im Kopf der Erziehung ihrer Kinder selbst annahm, sondern zudem auch noch um die geistige Klimapflege in der Stadt und Umgebung bemüht war. Fokussiert, nicht verengt wird hier die Perspektive auf das literarische und damit verbunden auch sozialgeschichtliche Geschehen im westfälischen Raum. Weshalb auch viele Weltbürger dort ihren Auftritt haben dürfen, die die Region nur als Durchreisende kennen. So gewinnen die Besucher des Museums durch das Regionale hindurch einen verständlich aufbereiteten Aus- und Überblick auf die Geschichte der deutschsprachigen Literatur. Anfangend im frühen Mittelalter, reicht dieser in chronologischer Ordnung zunächst bis 1900; führt zunächst an der niederdeutschen Halberstädter Bibel vorbei, einer Bilderbibel, die für den frühen Buchdruck steht und zugleich den illustrativen Übergang von der Gotik zur Renaissance bezeugt.
Wie ein Roter Faden zieht sich durch die Zeit der Versuch der westfälischen Autoren, dem Vorurteil zu begegnen, dass es in ihrer ländlichen Heimat mit Kultur und Bildung nicht allzu gut bestellt sei. Voltaire, der seinen »Candide« (1779) in Westfalen auf dem Schlosse des Herrn Baron von Donnerstrunkshausen beginnen lässt, bringt diese Voreingenommenheit in mustergültiger Boshaftigkeit auf den Punkt: »In großen Hütten, die man Häuser nennt, sieht man Tiere, die man Menschen nennt, die auf die herzliebste Weise von der Welt mitten unter den anderen Haustieren wohnen.« Drei Jahrhunderte vorher hatte Werner Rolevinck bereits »Ein Buch zum Lobe Westfalens, des alten Sachsenlandes « verfasst (1474), das heute als erste Kulturgeschichte gilt, und damit Aeneas Silvius’ – bekannt als Papst Pius II. – wenig schmeichelhafte Beschreibung der Westfalen zurechtzurücken versucht.
Schlagwortartig begegnet dem Besucher im Kulturgut Haus Nottbeck Epoche auf Epoche, über »Humanismus, Reformation, Buchdruck « zur westfälischen »Barockliteratur«, die – so erfährt man – noch wenig erforscht ist. Er macht Bekanntschaft mit Engelbert Kaempfer, dem ersten deutschen Forschungsreisenden überhaupt, der zwischen 1683 und 1692 bis nach Japan vordrang, um die Einheimischen auch im Genuss und Umgang mit beliebten europäischen Likören zu unterrichten.
Mit Alcoholica hatte wohl auch Siegfried Wilhelm von Goué Umgang, dem die Welt neben zahlreichen Oden auch ein Leben verdankt, das im höchsten Maße im Dienste der eigenen Unterhaltung stand, »erzdissolut, auf nichts als Spaß, Thorheit und windige Projecte « ausgerichtet.
Neben Anekdotischem widmet sich die Ausstellung etwa mit der Hexenverbrennung auch Themen, die sich in Literaturgeschichten nur als Fußnote finden lassen. Abschweifungen, die zu vertiefen der Besucher durch die großen blauen Buchrücken animiert wird, die sich aufziehen lassen und auf Schautafeln weitere Informationen bereithalten. Für ein zeitgemäßes Ausstellungskonzept steht auch der durchdachte Einsatz neuer Medien. Im Obergeschoss, in dem sich das 20. Jahrhundert nicht mehr in chronologischer, sondern in thematischer Ordnung anschließt, findet sich die westfälische Gegenwartsliteratur auch in Form einer PC-Datenbank mit mehreren Rechercheplätzen im »Cyber-Room« wieder, und Hörplätze überführen die Literatur- in Hörgeschichte(n).
Als Anne Luise Eissen 1981 mit dem Kreis Warendorf einen Erbvertrag über das renovierungsbedürftige Gut Nottbeck schloss, war dieser mit der Auflage verbunden, dass der Kreis das Anwesen »im Interesse der Heimat- und Kulturpflege in eigener Regie auf Dauer erhält.« Mit dem Museum für Westfälische Literatur, neben dem seit 2004 auch die Musikschule Beckum-Warendorf Einzug auf dem Kulturgut gehalten hat, wurde eine Form gefunden, diesem Ansinnen ohne allzu große Heimattümelei nachzukommen. Das Publikum scheint dies zu honorieren. Denn statt der kulturpolitisch überlebenswichtigen 5.000 kommen mittlerweile um die 20.000 Besucher jährlich. Das Bemerkenswerte daran ist, dass der Grund dafür nicht allein die landschaftliche Idylle ist, in die sich das ehemalige Rittergut fügt.
Gegen alle Erwartung verhält sich die Neugierde auf Kultur im Kreis Warendorf und Umgebung offensichtlich umgekehrt proportional zum sonstigen Angebot in der Region. Da kann es sich das Museum auch mal leisten, dem Literaturwissenschaftler und Dichter Siegfried J. Schmidt mit einer wohltuend sperrigen Sonderausstellung zum 65. Geburtstag zu gratulieren (bis 8.1.2006) und dessen konzeptionelle Dichtung zu zeigen, die »sprache als vieldimensionales feld im optischen, akustischen und intellektuellen raum« präsentiert, wie sjs in einem Manifest 1971 fordert. Schließlich war schon die vorangegangene Schau »Peter Rühmkorf: Die Jahre die Ihr kennt. Leben und Werk des großen deutschen Dichters« ein erheblicher Publikumserfolg.
Wenn diese beiden stellvertretend für die Spannbreite auch der künftigen Ausstellungen stehen, bleibt das Museum für Westfälische Literatur auch weiterhin eine große Bereicherung nicht nur für das Münsterland.