Eigentlich müsste man ein bisschen pathetisch werden, so wie vor 22 Jahren Heinrich Böll: »Ich möchte darauf hinweisen, daß große Dinge nicht immer in großen Städten geschehen und nicht immer mit irrsinnigem Tamtam und Popp und Hopp, das schnell zerplatzt. Ich glaube, daß hier etwas ganz Großartiges geschehen ist, was wahrscheinlich bis heute einmalig ist.« Das »große Ding«, von dem der Nobelpreisträger sprach, wurde am 10. Januar 1978 unter seiner und der Schirmherrschaft von Samuel Beckett, Max Frisch, Robert Minder und Mario Wandruszka in der selbsternannten »Blumen- und Gemüsestadt« Straelen als Europäisches Übersetzer-Kollegium Nordrhein-Westfalen eröffnet.
Seit 1985 ist das Kollegium, das auf Initiative des Beckett-Übersetzers Elmar Tophoven und des damaligen Vorsitzenden des Verbandes literarischer Übersetzer, Klaus Birkenhauer, gegründet worden war, in einem Gebäudekomplex von geradezu verwirrend kleinteiliger Weitläufigkeit untergebracht. Dem Besucher will es scheinen, als ob diese zahllosen Zimmer und Flure auf vertrackte Weise alle miteinander kommunizieren. Wobei der Weg irgendwann – man muss nur lange genug suchen – wieder ins Atrium führt, das die Tag und Nacht geöffnete Spezial-Bibliothek des Hauses beherbergt, die mit 110.000 Bänden die weltweit größte ihrer Art ist. Oder man steht unvermittelt in der Küche, um deren Tisch sich die hier arbeitenden Gäste aus der ganzen Welt regelmäßig versammeln.
Internationaler als im Übersetzer-Kollegium geht es wohl nirgendwo anders zu in Straelen. »Alles im grünen Bereich« steht auf der Homepage des 15.000-Einwohner-Städtchens, das eine grasbewachsene Couch als ihr Markenzeichen gewählt hat. Interessierte können auch erfahren, dass dieses »Hier lässt man sich gerne nieder« Kern des kommunalen »Corporate-Identity-Konzeptes« ist. Das gilt zweifellos auch für das Kollegium. Gastfreundschaft war von Anfang an ein wichtiger Bestandteil der Hausphilosophie; nicht nur, um professionellen Übersetzern Austausch und ideale Arbeitsbedingungen zu bieten, sondern auch, um den Kulturaustausch in einer Zeit zu befördern, in der ein solches Anliegen nicht unbedingt selbstverständlich gewesen ist.
In diesen Tagen beherbergt das Kollegium in fünf der 30 Appartements, die den hier arbeitenden Übersetzern kostenlos zur Verfügung gestellt werden, auch Gäste aus Bulgarien, der Türkei, Israel, Slowenien und Spanien. Sie arbeiten an »Leyla«, Feridun Zaimoglus im letzten Jahr erschienener, bildmächtiger Familienzerfalls- und Migrationsgeschichte, Zaimoglu selbst soll ihnen im Rahmen des «1. Straelener Atriumgsprächs« dabei helfen. Mit dem Schriftsteller hat auch ein Fernsehteam Einzug gehalten, das irgendwo im Hintergrund herumwerkelt. Eine Radioreporterin war am vorherigen Tag da. Reichlich »Tamtam« also. Doch ist die gelegentliche Störung der stillen Betriebsamkeit als Ausnahme von der Regel hier allein deshalb schon willkommen, weil ein bisschen »Popp und Hopp« auf Geldgeber beruhigend wirken kann. Denn die interessiert neben der Qualität der Arbeit zunehmend auch ihre Öffentlichkeitswirksamkeit.
Einen geeigneteren Gast als den 1964 in der Türkei geborenen kulturellen Grenzgänger Zaimoglu hätte sich das Kollegium für den Auftakt der neuen Reihe kaum aussuchen können. Wenn das ständige Über-Setzen zwischen den Kulturen und Sprachen, das Vermitteln zwischen Traditionen und Werten eine literarische Biografie geprägt hat, dann die Zaimoglus. In Deutschland aufgewachsen, hat er dem Lebensgefühl der Kinder der ersten Generation türkischer Einwanderer in seinen frühen Werken als »Militanzskribent« mit der »Kanak Sprak« eine derb-sinnliche literarische Stimme verliehen, hat der »Wut über die deutschen Zustände« durch ein originelles sprachliches Ventil Luft verschafft. Weshalb viele seiner deutschen Leser in Zaimoglu einen türkischen Autor sehen, oder gar, wie Joachim Lottmann, einen »Malcolm X der Türken«. Nicht so Vedat Corlu. Er hat die reizvolle, aber nicht eben leichte Aufgabe, »Leyla« in die Sprache von Zaimoglus Mutter zu übersetzen, die nicht die Muttersprache des Sohnes ist. Der Roman, so Corlus Sorge, werde in der Türkei wegen des Namens seines Verfassers als türkischer gelesen werden: »Feridun Zaimoglu ist aber ein deutscher Autor, der die türkische Tradition, die Gebräuche und das Alltagsleben sehr gut kennt, aber aus Deutschland auf die Türkei schaut.«
Konkret heißt das etwa: Corlu hat ein Problem mit der Zaimogluschen Neuschöpfung »Kummerkette«, die ein Gebetsinstrument meint, welches die islamische Kultur als Tasbih kennt, die christliche wiederum Rosenkranz nennt. Um das zu verdeutlichen, ist er aufgestanden. Was man schwer übersetzen kann, das muss man eben ausagieren. Das geht so: Breitbeinig steht Corlu vor der Runde und versucht sich so lässig wie irgend möglich an einer schwingenden Handbewegung, zu der sich Zaimoglu und all die anderen bitte die Kette dazu denken mögen. Ein szenischer Ausflug in die um Coolness bemühte türkische Unterschicht unserer Gegenwart. Zaimoglu hingegen besteht auf Verzweiflung, Trauer, Wut, auf den Gefühlen existenzieller Not also, die er in dem Namen »Kummerkette« aufbewahrt findet. »Ich will nicht durchdrehen, ich will nicht durchdrehen«, so laute das Gebet der einfachen Leute. Ob er im Türkischen etwas Exotik reinbringen könne, fragt Corlu. »Bring es rein, Baby!«
Für die Übersetzer hat eine solche Werkstatt den unschätzbaren Vorteil, dass der Autor seine Absolution unmittelbar erteilen kann. Dem Zuhörer gewähren die Gespräche einen Einblick nicht nur in die Aufgabe des Übersetzers, sondern auch in die Werkzeugkiste der Literaten. Literatur zu übersetzen, ist zweifellos eine der intensivsten Formen der Lektüre. Wer die Gelegenheit dazu nicht hat, kann sich glücklich schätzen, anderen dabei zusehen zu dürfen. Das soll von nun an regelmäßig mit den Atriumsgesprächen möglich werden, mit deren erster Ausgabe sich das Kollegium ein vorgezogenes Geburtstagsgeschenk beschert hat, finanziert von der Kunststiftung NRW.
Die Kunststiftung ermöglicht seit 2001 auch den mit 25.000 Euro dotierten Übersetzerpreis, der bis 2007 biennal an herausragende Literatur-Übersetzer verliehen wurde. Dass der Preis bei gleich bleibender Höhe von nun an jährlich vergeben werden kann, darf durchaus auch als Wertschätzung der Kunststiftung für das Kollegium gesehen werden. Überhaupt könne man sich nicht beklagen, sagt Geschäftsführerin Karin Heinz, die seit 1986 für das Kollegium arbeitet. Das finanzielle Engagement des Landes NRW, ohne das die Einrichtung nicht denkbar wäre, sei ein kontinuierliches, was um so wichtiger ist, weil das Haus seitens der Europäischen Union seit Jahren keine Unterstützung erfährt. Dabei hat Andrzej Szczypiorski schon 1996 erkannt, welchen Vorbildcharakter das Kollegium haben kann, wenn von einer grenzüberschreitenden Kultur die Rede ist. Damals schrieb er ins Goldene Buch der Stadt, das Übersetzer-Kollegium sei »die menschlichste und wichtigste Merkwürdigkeit der gegenwärtigen europäischen Kultur, der ich in der letzten Zeit begegnet bin.«